Das Traumland ist schon abgebrannt
Für die kleine, siebenjährige Dolly Rust ist das eine tolle Sache: Der geliebte Papa macht mit ihr eine Reise. Nur sie beide, ganz allein, ohne Mama und sie reisen zu einem wundervollen Abenteuer! Mitreisen darf nur ihre Zwillingsschwester Clemesta, auch wenn Clemesta eigentlich kein Mensch ist, sondern eine Pferdeprinzessin. Natürlich wissen das viele Menschen nicht und denken, Clemesta sei einfach nur ein Spielzeugpferd, aber das zeigt, dass die Menschen einfach nicht richtig hingucken. Clemesta ist aber mindestens genauso klug wie Dolly und so bemerkt sie alsbald, dass die Reise mit Papa schon ein bisschen komisch ist. Der Weg zu dem großen Abenteuer wird irgendwie immer länger, die Motels, in denen sie absteigen, die werden immer schäbiger und Papa verhält sich immer eigenartiger. Clemesta hat bald große Zweifel, ob sie überhaupt ein Abenteuer suchen. Aber das kann Dolly nicht glauben. Auch wenn ihre Zwillingsschwester eine Pferdeprinzessin ist, muss sie jetzt doch nicht so tun, als wären sie auf der Flucht.
Der Prinzessinnenpalast, der sich langsam auflöst
Michelle Sacks erzählt ihren Roman "Was verloren ist" konsequent aus der Sicht der siebenjährigen Dolly. Zuerst meint der Leser dann auch, es mit einem normalen, kleinen Mädchen aus der amerikanischen Mittelschicht zu tun zu haben. Der Vater arbeitet als Autoverkäufer und die Mutter versucht, ihre Schauspielerinnenkarriere wieder in Gang zu bringen. Glaubt man ihren Erzählungen, ist Dolly eine hoch begabte Schülerin, die viele Freunde hat und sich an allen Freizeitvergnügungen beteiligt, die kleine Mädchen so haben. Aber je mehr der Leser aus Dollys Leben erfährt, umso mehr dämmert ihm die Erkenntnis, dass da einiges wohl nicht so stimmt. Das kleine Mädchen, das so einsam ist, dass ein Plastikpferdchen seine beste Freundin ist, das allein in der Wohnung tanzt, das eine Brille bräuchte, für die kein Geld da ist, das vieles beobachtet und das vieles weiß, was es nicht weitererzählen darf.
"Wir können nicht mit Dad fahren. Wir müssen jemandem sagen wo wir sind"
Michelle Sacks macht von Anfang an kein Hehl daraus, dass Dolly und ihr Vater nicht auf einer normalen Reise zu einem Abenteuerpark sind. Natürlich kann ein Erwachsener einem Kind so etwas versprechen, aber das Kind, das von der Reise erzählt, kann nichts anderes als die Wahrheit sagen. Auch wenn es selbst das noch nicht verstehen kann. Dennoch ist es schmerzlich zu lesen, wie schlimm diese Reise ist. Sacks führt die beiden Protagonisten durch die Redneck-Countries der USA. Die Konföderierten-Flagge flattert vom Dach und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist schon lange gestorben. Man klammert sich an die "gute alte Zeit" als die Schwarzen noch die Arbeit auf den Baumwollfeldern verrichteten und die "Freundlichkeit gegenüber Fremden" ist hier etwas, was jeder längst vergessen hat.
Mit jedem gefahrenen Kilometer werden mehr Geheimnisse aus dem Leben des kleinen Mädchens offenbart. Vieles ist schmerzhaft zu lesen - was die Kleine schon erfahren hat, was sie schon weiß und vieles - in kindliche Phantasien und Abenteuer verpackt - schrittweise offenbart. Vielleicht sind viele Leser hier auch unterschiedlicher Meinung, ob es sich tatsächlich um einen Thriller oder vielmehr um ein Familiendrama handelt. Aber allein die Spannung, die Sacks mit jeder weiteren Enthüllung, mit jedem weiteren verzweifelten Tarnungsversuch erzeugt, war für mich nervenzerrend. Ob in solcher Konstellation noch ein gutes Ende möglich ist, das ist natürlich eine legitime Frage. Ob tatsächlich ein gutes Ende eintritt, sicherlich noch die Bessere.
Fazit
Die Pferdeprinzessin kann nicht das Ende einer Kindheit retten. Sacks beschreibt eine aufwühlende Reise durch die geschlagene amerikanische Gesellschaft an deren Ende nur die Wahrheit über den geliebten Papa stehen kann.
Michelle Sacks, btb
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