Ein tiefgründiger Roman, der aber kein klassischer Kriminalroman sein will.
„Ich bin überzeugt, dass mein Vater nicht eines natürlichen Todes gestorben ist. Ich bin überzeugt, er wurde ermordet.“ Mit diesen Worten wendet sich Marina Leonardi an die ehemalige Staatsanwältin Penelope Spada. Leonardi glaubt, dass die zweite Ehefrau des Verstorbenen, eine wenig erfolgreiche Schauspielerin, die über dreißig Jahre jünger als ihr Mann war, für den Tod verantwortlich ist.
Leonardi geht es weniger um eine gerechte Strafe. Vielmehr will sie endlich die Wahrheit wissen. Für Spada stellt sich aber ein ganz anderes Problem: Das vermeintliche Opfer Vittorio Leonardi, ein einflussreicher Mailänder Chirurg und Universitätsprofessor, ist bereits vor zwei Jahren gestorben und wurde längst eingeäschert. Auch an der Todesursache Herzinfarkt, die der Arzt einst bescheinigte, gibt es keinen Zweifel. Spada selbst hat unter rätselhaften Umständen ihre Karriere abrupt beendet. Von nagenden Schuldgefühlen geplagt, betäubt sie seitdem den Schmerz mit Alkohol und Zigaretten, treibt exzessiv Sport und schlägt sich nun mit privaten Ermittlungen durch. Widerwillig übernimmt sie den schier aussichtslosen Fall, da sie Zweifel an der Ermordung Vittorio Leonardis hat. Aber die Wege zwischen Spada und dem Professor haben sich bereits einmal gekreuzt und so wird der Fall für die frühere Staatsanwältin auch zu einer dramatischen Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit.
Italienischer Erfolgsautor
Der 62-jährige Autor Gianrico Carofiglio arbeitete jahrelang in seiner Heimatstadt Bari als Richter, Senator und Anti-Mafia-Staatsanwalt und beschäftigte sich schon früh intensiv mit Verhörtechniken und Aussagepsychologie. Ihn faszinieren die Tiefen der menschlichen Seele, die Ursachen einer Straftat, die Kluft zwischen Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit, der Gebrauch und Missbrauch von Sprache.
2002 erschien sein erster Kriminalroman „Reise in die Nacht“, der gleichzeitig den Auftakt zu seiner nunmehr sechs Bände umfassenden Reihe um den italienischen Anwalt Guido Guerrieri darstellt. Seine Bücher wurden in 28 Sprachen übersetzt. Gianrico Carofiglio ist darüber hinaus auch ein anerkannter Essayist, der in seinen Schriften über verschiedene Aspekte der menschlichen Natur und Gesellschaft schreibt.
Ungewöhnliche Ermittlerin
Eine Bewertung des neuen Kriminalromans des Italieners Gianrico Carofiglio fällt schwer, weil man sich fragen muss, ob es überhaupt einer ist. Ja, der Roman handelt von einem Verbrechen und dessen Aufklärung, aber man wird den Eindruck nicht los, dass dies nur den Rahmen für ein viel tiefer gehendes Thema bildet. Man muss diese Metaebene aber erkennen, ansonsten dümpelt der Roman ohne Tempo und Action bis zum Ende vor sich hin.
Dabei weist „Groll“ ein nicht neues, aber durchaus interessantes Setting auf. Geplagt von Selbstzweifeln lebt Penelope Spada zurückgezogen mit ihrer Hündin Olivia in Mailand. Bis vor fünf Jahren arbeitete sie als Staatsanwältin, bis ihr ein allzu forsches Vorgehen zum Verhängnis wurde. Ihm Rahmen unerlaubter Ermittlungen in Zusammenhang mit einer illegalen Freimaurerloge, die mafiaähnliche Strukturen aufwies, starb bei einem Verhör ein wichtiger Zeuge. Dies blieb für Spada nicht folgenlos: Ermittlung wegen fahrlässiger Tötung, Disziplinarverfahren, Amtsenthebung.
Seitdem arbeitet die 45-Jährige als eine Art Privatdetektivin ohne Lizenz und empfängt ihre Mandanten in einem Hinterzimmer einer Cafébar. Im aktuellen Fall verhört sie routinemäßig alle, die in Verbindung mit der vermeintlichen Tat stehen: die ehemalige Haushälterin, die erste Ehefrau, den Arzt, der den Tod feststellte. Mit Leonardis zweiter Ehefrau, die im Fokus der Ermittlungen steht, freundet sich Penelope Spada sogar an. Auch die geplante Testamentsänderung des Professors kurz vor seinem Tod wirft Fragen auf. Liegt hier vielleicht ein Motiv? Am Ende steht eine Auflösung, die zwar stimmig ist, aber wenig spektakulär erscheint. Auf die einfache, kriminalistische Lesart eine eher zähe Angelegenheit.
Fragen der Zeit
Worum geht es also wirklich im Roman? Gianrico Carofiglio wirft - im besten Sinne eines Friedrich Dürrenmatts - Fragen auf, die die Protagonisten in den zahlreichen Gesprächen stellen und die den Roman auf eine weitere Art durchleuchten: Wie weit darf ich gehen, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun? Ab wann ist Selbstjustiz legitim? Ist für mich alles erlaubt, wenn ich weiß, dass es für mich keine Konsequenzen hat? Es geht letztendlich um das ethische Dilemma einer Ermittlerin, die mit der Schuld und den Folgen ihres Handelns leben muss. Aber es stellt sich auch die Frage nach Moral und sittlichen Empfinden. Darf jeder seine eigenen Grenzen festlegen? In dieser Lesart besitzt der Roman eine psychologische Ebene, die nicht uninteressant, aber letztendlich auch nicht neu ist und die trotz Diskurse keine Antworten bieten kann. Wirklich versöhnen kann am Ende das letzte, fein austarierte Verhör Spadas mit dem Täter den Krimileser aber leider auch nicht.
Fazit
Gianrico Carofiglio gelingt ein subtiler, tiefgründiger Roman, der mit der Frage nach der Wahrheit spielt. Der Autor bricht dabei auch mit gängigen Genrezuweisungen, experimentiert mit dem, was wir einen klassischen Kriminalroman nennen. Effekthascherei ist dem Carofiglio fremd, stattdessen gelingt ihm mit einer ungemein präzisen Sprache beinahe eine Umkehrung der Täter-Opfer-Zuweisung. Dies kann auf seine Art auch spannend sein, dürfte aber nicht jedem Krimileser zusagen.
Gianrico Carofiglio, Folio
Deine Meinung zu »Groll«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!