Das Dickicht der Lüge
- Heyne
- Erschienen: Januar 1993
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Wenn Lügen gnädiger als die Wahrheit sind
Einst galt Theodore Camel als Überflieger. Der Polizist stürmte die Karriereleiter hinauf, wobei er auf sein Talent setzen konnte, Widersprüche und Lügen zu entlarven, die ihm während eines Verhörs untergeschoben werden sollten. Der Erfolg hatte seinen Preis: Camels Ehe zerbrach, seine Tochter will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Auch beruflich ist Camel in Ungnade gefallen, wurde unkontrollierbar und schließlich degradiert.
Seitdem schiebt er Schreibtischdienst nach Vorschrift, wartet auf die Pensionierung und vertreibt sich die Feierabende mit Alkohol. Für Captain Land, seinem Vorgesetzten, ist Camel der ideale Kandidat, den er an die Ermittlungsfront schicken kann, um sich selbst bedeckt zu halten: Jonathan Gaetan, ein prominenter Geschäftsmann, hat unter abstrusen Umständen anscheinend Selbstmord begangen. Seine deutlich jüngere Frau Mary ist Haupterbin und schon deshalb verdächtig. Camel soll sein Talent als „Lügendetektor“ einsetzen und die frischgebackene Witwe überprüfen.
Mary Gaetan ist eine schöne, manipulative Frau, die Camel nicht kaltlässt. Außerdem lügt sie über die letzte Nacht ihres Gatten; davon ist der Detective schnell überzeugt. Er beschließt sich den Fall anzueignen, der ihn zu faszinieren beginnt und aus seinem Alltagstrott reißt. Dabei täuscht er Land und seine Kollegen und lässt sie u. a. darüber im Unklaren, dass Mary Gaetans Biografie beachtliche Lücken aufweist und sie es auch sonst mit der Wahrheit nicht genau nimmt.
So kann der eigentliche Täter Philip, ein just aus dem Gefängnis entlassener, gewalttätiger Psychopath, seinen Amoklauf fortsetzen. Ohnehin geistig angeschlagen, verliert er endgültig den Verstand und attackiert alle, die er für sein verpfuschtes Leben verantwortlich macht. Dabei kommt ihm nicht nur Jonathan Gaetan in die Quere. Weitere Menschen sterben, während Camel Stück für Stück einer ‚Familiengeschichte‘ rekonstruiert, die in ihrer Abseitigkeit immer neue Höhepunkte erreicht und ebenso spektakulär wie bitter endet ...
Die Wahrheit als allzu zerbrechliches Gut
„Lie to Me“ lautet der Originaltitel dieses Romans, der einst im Meer der ständig in die Buchladenketten gewuchteten Neuerscheinungen unterging und nie gewürdigt wurde, wie er es verdient: Hier schreibt ein Verfasser, der sowohl Haupt- als auch Subtext so fest und geschickt in der Hand hält, dass es angenehm auffällt. David Martin gelingt nicht nur ein haarsträubender Thriller, sondern auch eine Reise durch die Abgründe der menschlichen Psyche.
Jeder Mensch lügt, und das Spektrum dieser Unwahrheiten ist enorm, da die Lüge ein zentrales Element des menschlichen Charakters darstellt. Damit wird sie zur Idealquelle für Autoren, die sich mit den Folgen beschäftigen: Lügen sind aufklärungsanfällig, und sie explodieren dabei gern in die falsche Richtung. Nicht viele Schriftsteller gehen so weit wie Martin, der geradezu offensiv das Thema durchdekliniert: In seiner Geschichte lügen sie in der Tat alle! Dabei ist es völlig gleichgültig, ob sie Kriminelle oder Polizisten, Täter, Opfer oder Zeugen sind: Nie sagen sie die Wahrheit, was den Ich-Erzähler Teddy Camel sowie den Verfasser ausdrücklich einschließt.
Als Leser scheinen wir dem Ermittler ein Stück voraus zu sein. Schließlich wissen wir, dass Mary Gaetan lügt. Doch Martin spart in der Schilderung der Mordnacht den Höhepunkt aus. Will er uns ‚schonen‘ und nicht auf Splatterszenen setzen? Wie sich herausstellt, kann dies nicht der Grund sein: Wenn Philip loslegt, bleibt Martin eng am blutigen Geschehen. Tatsächlich sollen wir verleitet dazu verleitet werden, die Wissenslücke selbst zu füllen - und uns zu irren. Erfreulicherweise lüftet der Autor das Rätsel auf eine Weise, die man gelesen haben muss: Martin ist ein Meister sowohl des Groben als auch des Absurden.
Wer legt hier wen herein?
Mehrheitlich gleiten Autoren, die auf Blut, Sperma & Gedärme setzen, ins Lächerliche ab, weil sie das Grauen über-inszenieren und buchstäblich auf den Overkill setzen. Martin erschafft dagegen eine Atmosphäre echten Unbehagens. Selbst wenn er sich auf Andeutungen beschränkt, sorgt dies für Bedrohlichkeit. Philip ist kein Killer-Butzemann, sondern wirkt unangenehm präsent. Sein Wahnsinn ist keine Geste à la „Joker“: Philip ist verrückt, denkt und agiert sprunghaft und ist völlig unkontrollierbar. Dass er selbst ein Opfer häuslicher Misshandlungen war, wird sehr deutlich gemacht. Mitleid bleibt jedoch aus: Philip ist ein Mensch gewordener Dämon. Es gibt keinen Zweifel, dass er sterben, sondern höchstens die Frage, wie viele Opfer er bis dahin mit sich reißen wird.
Obwohl Martin seine Polizei-Hauptfigur „Teddy“ Camel mit den typischen Seelenrissen des an seinem Job zerbrochenen, aber immer noch fähigen Ermittlers belädt, lässt er diese Klischees hinter sich. Camel ist am Ende, doch dass er sich noch einmal aufrafft, ist weniger dem Polizeidienst, sondern seiner persönlichen Obsession geschuldet, die er mit dem Fall verknüpft. Ohne Gewissensbisse instrumentalisiert Camel Kollegen und Freunde; er liefert sich quasi ein Kopf-an-Kopf-Amok-Rennen mit Philip - und ein grandios-gnadenloser Epilog macht deutlich, dass sich dieses Drama fortsetzt, obwohl der Mehrfachmörder unter der Erde liegt.
Man muss vorsichtig sein, will man das Werk eines Schriftstellers auf dessen Biografie zurückführen. „Lie to Me“ ist ein Thriller, ein fiktives Werk. Nichtsdestotrotz fallen gewisse Parallelen zum Autorenleben auf. Der 1946 geborene David Ozelot Martin wuchs selbst in einer disfunktionalen Familie auf. Der Vater war Alkoholiker; er schlug den Sohn und tötete beinahe die zudem geisteskranke Mutter. Martin gelang dennoch eine Karriere als Schriftsteller, während sein Privatleben von schweren Problemen geprägt blieb. Er trank, war gewalttätig und erlebte finanziell Schiffbruch. Nach einem Zusammenbruch beschrieb er 2008 die chaotische Auflösung seines Lebens. Seitdem ist er als Autor nicht mehr in Erscheinung getreten. Die Kenntnis dieser Vorgeschichte mag erklären, wieso Martin seine vielfach verletzten Figuren ungemein plastisch darzustellen weiß. Dass er es außerdem schafft, sie in eine Story einzubinden, die ihnen in ihrer kruder Wucht eine ideale ‚Heimat‘ bietet, ist ein zusätzlicher Bonus, der diesen Thriller in Erinnerung bleiben lässt.
Fazit
Nicht nur gewollt mit Schauereffekten arbeitender, sondern tatsächlich düsterer Thriller, dessen Protagonisten sämtlich Gefangene ihrer beschädigten Psychen sind; das Böse wirkt nicht auf den Effekt gezwirbelt, sondern unangenehm bedrohlich in seiner plausiblen Unberechenbarkeit: ein thematisch auf den Punkt gebrachter Roman, dessen Verfasser den entfesselten Schrecken im Epilog konsequent gipfeln lässt.
David Martin, Heyne
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