Zwei Wahrheiten

  • Kampa
  • Erschienen: April 2023
  • 3
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Michael Drewniok
70°1001

Krimi-Couch Rezension vonMai 2023

Harry Bosch undercover, aber nicht überragend

Auf der Flucht vor dem gefürchteten Ruhestand konnte Hieronymus „Harry“ Bosch im winzigen San Fernando Police Department unterkommen. Die viel zu wenigen Beamten sind froh über den Veteranen, der hier seine Mission fortsetzt und Verbrecher jagt, die bisher dem Gesetz durch die Maschen schlüpfen konnten.

Aktuell kann Bosch sogar einen ‚heißen‘ Fall übernehmen: Vater und Sohn Esquievel, wurden in ihrer Apotheke erschossen. Die Aufnahmen der Überwachungskamera belegen, dass hier kein Raub, sondern eine Hinrichtung stattfand: Offenbar hatte der Vater für eine Verbrecherbande gefälschte Rezepte eingelöst. Der Sohn wollte nicht mitziehen und unterschätzte den Zorn eines Gangsterbosses, der sich „Santos“ nennt und für seine Brutalität berüchtigt ist.

Bosch kann sich dem Doppelmord nicht mit ganzer Kraft widmen, denn wieder einmal ist er selbst ins Visier der Justiz geraten: Vor drei Jahrzehnten hatte er einen mehrfachen Frauenmörder in die Todeszelle gebracht. Das Urteil wurde nie vollstreckt, und nun kommt es zu einer Wiederaufnahme des Falls. Eine Nachuntersuchung der einst von Bosch archivierten Beweise ergab, dass nicht Preston Borders, sondern ein anderer (inzwischen verstorbener) Strolch die Tat begangen hat. Da die Polizei seit einigen Jahren vermehrt mit Ermittlungsfehlern der Vergangenheit konfrontiert wird, wurde die „Conviction Integrity Unit“ gegründet. Sollte sie Bosch eines Irrtums überführen, wäre dadurch seine Reputation und damit sein Lebenswerk zerstört. Deshalb rollt Bosch den Fall selbst noch einmal auf, obwohl er konzentriert auf der Hut sein müsste, denn er lässt sich undercover in Santos Bande einschleusen und begibt sich dadurch in akute Lebensgefahr ...

Geld stinkt & Leichen zählen nicht

Aus dem Jahre 2017 stammt der hier vorgestellte Roman, der deshalb eine (reale) Krise thematisiert, die zwar realiter nicht beendet, aber durch ‚aktuellere‘ Probleme zumindest aus dem US-Medienfokus verdrängt wurde - dies zur Erleichterung jener, die aus Gewinnsucht ihre Landsleute in sechsstelliger Zahl in einen vorzeitigen Tod getrieben haben.

Die sogenannte „Opioid-Krise“ in den USA ist das Ergebnis brutaler Gewinnsucht, die auf überforderte, zu lange gleichgültige Behörden traf. Ausgerechnet neu entwickelte, extrem wirksamer Schmerzmittel konnten als Rauschgift missbraucht werden. Dies fachte eine absurde Entwicklung an: Die Regierung wurde rezeptgebührzahlender Helfer einer skrupellosen Pharma-Industrie, die ihre ‚Kunden‘ systematisch in Süchtige verwandelte und nebenbei dem organisierten Verbrechen einen lukrativen Markt erschloss.

Connelly wirft Harry Bosch als Undercover-Ermittler in einen Mahlstrom, der eine kriminelle Dynamik erreicht hat, die an die Situation nach dem Inkrafttreten der Prohibition in den 1920er Jahren erinnert: Ein immenser Bedarf wird illegal befriedigt. Die dabei fließenden Geldsummen katapultieren das organisierte Verbrechen in einen Boom-Orbit. Im 21. Jahrhundert erleichtert die Globalisierung das „Waschen“ solcher Gelder, die in Steueroasen vor der im Ausland hilflosen US-Justiz in Sicherheit gebracht werden.

Harry hasst Kriegsgewinnler

Wer wie Harry Bosch das Verbrechen nicht nur beruflich verfolgt, sondern dies als Lebensmission und das Böse als persönlichen Gegner betrachtet, wird sich zuverlässig auf die Nutznießer eines solchen Brutal-Kapitalismus’ stürzen. Dieses Mal geht Bosch noch einen Schritt weiter und mischt sich undercover unter die Opioid-Gangster, obwohl sein 70. Geburtstag naht. Seit einem halben Jahrhundert legt sich Bosch mit Kriminellen ebenso unerschrocken an wie mit karrieresüchtigen Vorgesetzten, korrupten Juristen, gierigen ‚Geschäftsleuten‘ oder machthungrigen Politikern. Dafür lässt er jede Deckung fallen, auch wenn er ein wenig vorsichtiger geworden ist, seit er entdeckt hat, dass er Vater einer Tochter ist, die auch eine Achillesferse werden kann: Bosch ist verletzlich geworden.

„Zwei Wahrheiten“ ist ein Titel, der ungewollt das Dilemma dieses Romans andeutet: Connelly erzählt faktisch zwei Kriminalgeschichten. Dies ist legitim, aber riskant, wenn der Autor entscheidet, die beiden Handlungsebenen nicht wirklich miteinander zu verknüpfen. Hier entstand kein Roman, sondern eine Sammlung von Handlungssequenzen, die nicht einmal notdürftig verklammert werden. Ein oft wirksam genutztes Plot-Element zeigt Harry Bosch unter mehrfachem Druck. Sein Wesen ist stressorientiert; wenn man ihn in die Ecke drängt, wird Bosch einfallsreich und straft seine scheinbare Unterlegenheit Lügen.

In „Zwei Wahrheiten“ weicht Connelly dieses Konzept auf. Eigentlich gerät Bosch nie wirklich in Bedrängnis. Zwar will man ihn u. a. aus einem Flugzeug werfen, doch der Killer stellt sich derart dämlich an, dass Harry ihn kurzerhand erledigen kann (während Killer Nr. 2 vor Schreck ohne Fallschirm aus besagtem Flieger springt). Die Pillen-Bande wird ausgehoben, woraufhin Bosch sich jener Verschwörung widmen kann, die ihn als Sündenbock im Rahmen eines - leider muss dies festgestellt werden - überkompliziert eingefädelten und letztlich dümmlich scheiternden Betrugsversuches missbrauchen will.

Harry und sein Schatten

Im diesem letzten Drittel des Romans lässt Connelly Harry Bosch zurücktreten. Die Handlung wird von seinem Halbbruder Mickey Haller dominiert, der nicht nur der Held einer weiteren Serie von Connelly-Krimis, sondern Harrys Halbbruder ist. Inzwischen entstand ein veritables Connellyversum, in dem die Figuren anderer Serien koexistieren und einander besuchen können. Dass dies nicht zwangsläufig der Geschichte nützt, wird in „Zwei Wahrheiten“ deutlich.

Die Handlung entwickelt sich nun zu einem „courtroom drama“, in dem Anwälte sich vor Gericht beharken: In den USA ist das Recht ein Spielball, um den gut bezahlte und/oder schauspielerisch begabte Ankläger bzw. Verteidiger raufen; die Wahrheit (manchmal auch „Gerechtigkeit“ genannt) ist zweitrangig. Doch Harry Bosch und Mickey Haller sind zwei gegensätzliche Charaktere. Connelly spricht dies an, ohne es für das Geschehen wirklich zu berücksichtigen. Es gibt viele lose Enden, die festgezurrt werden müssen, bevor dieser Roman in ein Finale geht, das gleichzeitig einen neuen Fall startet.

„Zwei Wahrheiten“ ist ein konstruiert wirkenden, zwar wie üblich routiniert geschriebenen, aber mit zu vielen Handlungsaspekten jonglierenden Krimi, der buchstäblich Stückwerk bleibt. Dieses Mal rennt Harry Bosch einer Geschichte hinterher, die er nur teilweise erreichen oder dominieren kann. Schlimmer noch: Er wirkt wie ein selbstgerechter Eiferer, der sich stets im Recht glaubt und Freunde und Verbündete vor die Köpfe stößt. Zudem lassen allzu viele ‚erschütternde‘ Szenen kalt, weil sie nur Seifenoper-Klischees erfüllten. Connelly kann es besser.

Fazit

Routinierter, aber ‚unrund‘ laufender Krimi der langlaufenden Harry-Bosch-Reihe. Inhaltlich bleibt dieser Roman Stückwerk, der gewohnte Sog einer Einer-gegen-alle-Story stellt sich nicht ein, im Vergleich zu anderen Bänden der Serie fällt dieser deutlich ab.

Zwei Wahrheiten

Michael Connelly, Kampa

Zwei Wahrheiten

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