Das letzte Mahl

  • Heyne
  • Erschienen: November 2022
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Michael Drewniok
65°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2023

Kochen und Killen - Erwachen einer Leidenschaft

John Guadelupe Ontuno, Sohn illegal in die USA eingewanderter Mexikaner, hat früh den Reiz verspürt, den das Kochen auf ihn ausübt. Sein Leben verlief unauffällig, obwohl er in seiner Jugend mit einer lokalen Gang herumhing. Doch John war schlau genug sich dem Verbrechen fernzuhalten. Er nutzt die Möglichkeiten, die ihm sein Kochtalent bietet, verlässt sein Heimatdorf, die klammernde Mutter, den lieblosen Vater sowie den scheinheiligen Padre Alonso und sucht in sicherer Entfernung den Neuanfang.

John bewirbt sich erfolgreich als Koch in der staatlichen Strafanstalt Allan B. Polunsky Unit nahe West Livingston, Texas. Hier herrscht der höchste Sicherheitsstandard der USA, denn in Polunsky sitzen u. a. Schwerkriminelle, die auf ihre Hinrichtung warten, die in Texas gern und oft angeordnet wird. John bekocht nicht nur die Gefangenen und das Gefängnispersonal, sondern ist auch für das letzte Mahl der Todeskandidaten verantwortlich, das ihnen vor der Hinrichtung serviert wird.

Erst erschrocken, dann fasziniert erlebt John die Alltäglichkeit des angeordneten Todes. Er beobachtet die zum Tode Verurteilten, wird Zeuge ihres Sterbens und hält auch sonst die Augen offen, weshalb er bald weiß, dass es hinter den Kulissen von Polunsky alles andere als gesetzestreu zugeht. Chief Brown, der bigotte Leiter, ist korrupt, ein Rassist und erzwingt sich vom weiblichen Personal sexuelle ‚Gefälligkeiten‘.

John lebt sich ein und findet seine Nische, doch dann teilt man ihm Bandenchef Richie Gómez als ‚Kunde‘ zu. Er wird in Polunsky sterben, aber er will sich an Brown rächen. John soll den Gefängnischef töten. Drücken kann er sich nicht, denn Gómez‘ Spießgesellen sitzen ihm im Nacken und drohen mit drakonischer Strafe, sollte der Koch sich weigern, den letzten ‚Wunsch‘ ihres Bosses zu erfüllen …

Gemeinschaft als Mühlstein

In „Das letzte Mahl“ greift Autorin Karla Zárate beispielhaft das reale, politisch und wirtschaftlich konservierte Schicksal jener US-‚Bürger‘ auf, die ein Leben ohne soziales Netz führen - als rechtlose, unterbezahlte Arbeitskräfte und Sklaven der Neuzeit geduldet, aber ständig auf der Liste einer Obrigkeit stehend, die sie medienwirksam als Konkurrenten auf dem US-Arbeitsmarkt, Sozialschnorrer und geborene Kriminelle verteufelt. Man verfolgt, jagt und fängt die ‚Eindringlinge‘, sperrt sie in Lager, trennt sie von ihren Kindern und schickt sie in das Elend zurück, dem sie zu entkommen trachteten.

Zárate macht deutlich, dass die Probleme nicht in den USA beginnen. Der Familie Ontuno ist eine echte Integration auch deshalb verwehrt, weil sich die Solidarität jener Landsleute, in deren Nachbarschaft man sich niederließ, um ein Gefühl von Heimat in der Fremde zu bewahren, als Spinnennetz erweist, das niemand entkommen lässt. Stets gibt es Familienangehörige und Verwandte, die auf Unterstützung pochen, und Padre Alonso zeigt, dass man die Strukturen schon früher herrschender Unterdrückung - hier seitens einer Kirche, die sich in alle Bereiche des Alltagslebens einmischt – quasi mitgebracht hat.

Schließlich ist da das Verbrechen. Es ist für junge Männer wie John Ontuno Hoffnung und Verderben zugleich. Wer nicht wie seine Eltern rechtlos in mies entlohnten Jobs enden will, kann im Grunde nur kriminell werden. Doch auch in den allgegenwärtigen Banden sind Ausbeutung und interne Gewalt an der Tagesordnung.

Mikrokosmos des Verderbens

John versucht den Ausbruch und wählt dabei die Flucht nach vorn, indem er als Gefängniskoch anheuert. Seinem Schicksal entkommt er dadurch nicht, wobei Zárate offenlässt, ob dies nicht vor allem der gleichgültigen Gesellschaft schaden wird, weil sich hinter Johns gleichmütigem Wesen womöglich ein Psychopath verbirgt, der im Finale wie ein Schmetterling aus seiner Puppe geschlüpft ist.

In der Strafanstalt Polunsky gerinnt die vor sich hinköchelnde Biografie zum giftigen Hauptgericht. Hier kommt endgültig zusammen, woran die Welt à la Zárate krankt: ein generell auf Ungleichheit fußendes, gleichgültiges Gesellschaftssystem, das auf Missstände stumpf mit drakonischen Strafen bis zum Todesurteil ‚reagiert‘. Hinter Gittern landen die Gefangenen in einer Parallelwelt, in der jede Abscheulichkeit möglich ist, solange davon nichts an die Öffentlichkeit dringt.

Dazu passt ein Leiter, der sein Amt nicht ausübt, sondern auf sämtlichen Ebenen missbraucht und sich im Schutz des Systems als Diktator eines ureigenen Reiches aufspielen kann. Chief Brown ist ein selbstgerechter Sadist, der seine charakterlichen Defizite auf Kosten derer auslebt, die ihm unterworfen sind. Zwischen den Gefangenen und Arbeits-Ameisen wie John sieht er keinen Unterschied.

Lockruf des Abgrunds

‚Erlösung‘ erfährt John ausgerechnet durch seinen ‚Durchbruch‘ zum Mörder. Es hilft ihm nicht, dass er sich an die Gesetze hielt; das System, für das er arbeitet, sieht dafür keinen Bonus vor. Richie Gómez ist John ebenso gleichgültig wie Chief Brown. Der Koch wird zum Rachewerkzeug und Mordinstrument. Dies lässt Zárata in einem Aha!-Moment kulminieren, der identisch mit Johns ‚Wiedergeburt‘ ist: Endlich hat er seine Nische in dieser Welt gefunden!

„Das letzte Mahl“ gehört zu denjenigen Romanveröffentlichungen, die eine Schar offensichtlich vor Ergriffenheit in die Knie gehender Kritiker als literarische Offenbarung feiert - eine Tatsache, die den erfahrenen Leser umgehend misstrauisch stimmt. Unschöne Lektüreerfahrungen belegen, dass solche Urteile oft literarisches Schaumwerk veredeln, dem jenseits inhaltlicher oder stilistischer Kunststücke eine echte = durchweg spannende Story fehlt.

Dies lässt sich auch für dieses Buch konstatieren. „Das letzte Mahl“ zehrt davon, dass eine hispanische Autorin den Finger in eine offene Wunde legt: Die USA, aufgrund einer einst fortschrittlichen Verfassung angeblich weiterhin ein Land, in dem sämtliche Bürger ohne Beachtung von Herkunft, Stand und Vermögen gleich sind, ist in den letzten Jahrzehnten zu einer zerrissenen Nation heruntergekommen, wobei auch ‚dank‘ des Agitator-Präsidenten Trump immer deutlicher wurde, dass alte Probleme nie wirklich angegangen oder gar gelöst wurden.

Das (schrecklich) Offensichtliche

Nichtsdestotrotz kann Zárete dem Thema keine neue Relevanz abringen. Die Handlung soll die Leser durch ‚schockierende‘ Szenen sowie einen finalen Dreh ins Zynische mitnehmen, doch letztlich bleibt es bei einem Potpourri einschlägiger Ereignisse, die im Kern wahr sein mögen, nicht zuletzt durch zahllose Filme, TV- und Streaming-Serien jedoch zu Klischees abgeschliffen wurden.

John Ontunos Werdegang wird zum recht offensichtlichen Instrument einer Story, die den erhobenen Zeigefinger kaum verbirgt. Die Symbolik ist so dick aufgetragen, dass sich nie ein Problem mit der Dechiffrierung ergibt. Das ist zwar legitim, doch wieso bemüht sich die Autorin dann so intensiv um ein Geschehen, das mit Subtext nicht nur auf-, sondern überladen wird?

Freilich mögen solche Einwände primär das Urteil dieses Rezensenten prägen, der schon immer allergisch reagierte, wenn ihm „eine aberwitzige Reise in die dunkelsten Winkel der menschlichen Seele“ (Cover-Zitat von Guillermo Arriaga, eines renommierten mexikanischen Schriftstellers, der sich offenbar wie Stephen King ein bisschen Geld als Werbe-Bläser dazuverdient) angekündigt wird. Für empathisch-empfindliche Gemüter mag sich dieser Eindruck einstellen. Ansonsten lässt dieses Garn recht kalt bzw. bestätigt einmal mehr, dass eine gerechtfertigte Klage ins Leere laufen kann, weil sie vor allem jene Menschen erreicht, die ohnehin einer Meinung mit der Anklage sind.

Fazit

Karge Erzählung, deren Autorin in einfachen Worten eine Lebensgeschichte voller Brüche, Verletzungen und sozialem Druck erzählt: gut geschrieben (und übersetzt), brennt aber nicht wie vollmundig angekündigt im Hirn nach.

Das letzte Mahl

Karla Zárate, Heyne

Das letzte Mahl

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