Der mordende Funke und ein wahnhafter Flächenbrand
Die Vereinigten Staaten, wie sie Privatermittlerin Holly Gibney kannte und vielleicht auch irgendwo mochte, scheinen nicht mehr zu existieren. Das Land befindet sich fest im Griff einer Seuche namens "Corona", anstelle der Grußformeln "Guten Tag" oder "Wie geht es Ihnen?" ist die Frage getreten, ob und womit der Gesprächspartner geimpft wurde und zwischen denen, die überhaupt daran glauben, dass eine lebensbedrohliche Seuche tobt und denen, die deren Existenz schlichtweg verleugnen, öffnen sich tiefe Gräben.
Dennoch - Holly Gibney arbeitet weiter in ihrer geliebten kleinen Detektei "Finders Keepers", denn auch jetzt gilt es, Fälle zu lösen, an denen die Polizei offensichtlich kein rechtes Interesse zeigt. Das zumindest meint Penelope - Penny - Dahl, deren Tochter Bonnie auf dem Nachhauseweg verschwunden ist. Gefunden wurde nur ihr Mountainbike, an dessen Sattel eine letzte Nachricht mit dem lapidaren Text "Ich hab' genug" klebte. Er dient der hinzugezogenen Polizei als Hinweis darauf, dass die volljährige Bonnie offensichtlich von den ständigen Streitereien mit ihrer Mutter die Nase voll hatte und sich mit unbekanntem Ziel aus dem Staub gemacht hat.
Diese einfache Lösung kann Penny allerdings nicht glauben und so kommt es, dass Holly die Ermittlungen um das Verschwinden der jungen Frau aufnimmt. Alsbald zeigt sich, dass Bonnie in der Nähe eines wild wuchernden Parkabschnitts verschwunden ist. Hier scheinen sich oft zwielichtige Gestalten zu treffen und das ist sicherlich keine besondere Visitenkarte. Was dieses Dickicht aber noch bedrohlicher macht, ist der Umstand, dass Bonnie scheinbar nicht die Einzige ist, die in dieser Gegend zuletzt gesehen wurde.
Kettenrauchend, ein Faible für Fastfood - aber mit Maske
Im Jahr 2014 ließ Stephen King Holly Gibney in "Mr. Mercedes" ermitteln und seitdem hat ihre Figur ihn offensichtlich nicht mehr losgelassen. Holly Gibney - eine oftmals schüchterne und sicherlich eigenwillige junge Frau - die sich aber mit der Zähigkeit einer Bulldogge in ihre Fälle verbeißen kann und nicht rastet und ruht, bis diese aufgeklärt sind. Sie erlebt zum Auftakt des Buches allerdings auch keine fröhlichen Zeiten: Das Corona-Virus hat die USA fest im Griff und ihre Mutter, die bis zuletzt an Leugner-Demonstrationen teilnahm, musste zuletzt erkennen, dass an dieser Krankheit wohl doch irgendetwas dran war und ist ihr prompt erlegen. Holly stürzt in ein tiefes Loch und eigentlich sollen alle Ermittlungen jetzt einmal ruhen und die Agentur ein paar Wochen geschlossen bleiben, denn auch Freund und Partner Pete kämpft derzeit mit der tückischen Erkrankung, als Penny Dahl hartnäckig ihren Kontakt sucht.
Der Leser könnte Holly allerdings schon wichtige Hinweise zu den Tätern liefen, erfährt er doch schon in den ersten Kapiteln, wer und unter welchen Umständen bereits einen Menschen verschwinden ließ. Erzählt wird von dem 40jährigen Jorge Castro, der den Anzeichen des drohenden körperlichen Verfalls entgegenwirken will. Er dreht an einem bedeutsamen Abend noch eine Jogging-Runde, will er sich doch mit 50 plötzlich nicht mit einem Bierbauch und Cholesterinsenkern im Medizinschrank wiederfinden - und lapidar wird der Leser darüber informiert, dass Castro nicht einmal dazu kommen wird, die Kerzen auf seiner nächsten Geburtstagstorte auszublasen. Mit seinem ihm üblichen schwarzen Humor erklärt King dazu, dass das Schicksal doch ein Schelm sei und zieht den Leser sofort in eine atemberaubende Spannung hinein.
Tief verborgene Urängste werden getriggert
Stephen King lässt die Handlungen seines Romans zeitlich gesehen gegeneinander laufen. Die erste Entführung wird mit dem 17. Oktober 2012 datiert, Holly nimmt ihre Ermittlungen im Jahr 2021 auf und bereits da fragt sich der Leser, in welchem Zusammenhang das Verschwinden der beiden Menschen steht und ob es sich bei ihnen tatsächlich um die einzigen Entführungsopfer handelt. Dennoch - es sind zeitliche Stränge, die aufeinander zutreiben und jedem muss klar sein, dass es irgendwann ein Aufeinandertreffen geben muss, was möglicherweise das Ende einer schrecklichen Serie oder, alternativ, das Ende einer vielversprechenden Ermittlerkarriere nach sich ziehen kann.
Die Geschichte die King erzählt, ist dann auch unglaublich: Kratzt sie doch am allerletzten Tabu der Menschheit. Vor zehn Jahren hätte man vielleicht gesagt, wer denkt sich so etwas Unglaubliches aus? Aber mittlerweile hat uns das Internet eine solche Fülle von abstrusen Theorien und wahnwitzigen Geschichten geliefert, dass sich diese Frage nicht mehr so recht zu stellen vermag.
King gelingt damit wieder einmal ein raffiniertes Spiel mit den alten, tief verwurzelten Ängsten, die in uns allen stecken. Es ist aber nicht nur die atemlose Spannung in der modernen Fassung eines der berühmtesten Märchen der Gebrüder Grimm, sondern auch die Schilderung einer zerrissenen Gesellschaft. Vieles, was durch die wiedererlangte Freiheit nach den Impfungen gegen Corona wieder in den wohlverdienten Hintergrund gerückt ist, tritt hier wieder ans Licht: Die Angst vor der Gemeinschaft, die sonst gesucht wurde, die tiefen Gräben zwischen denen, die die Schutzmaßnahmen befürworten und denen, die sie ablehnen, den Theorien der Impfgegner und dem Unverständnis der Befürworter.
King hält hier mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg und damit kann und wird er sich nicht nur Freunde unter den Leser/innen machen. Geteilter Meinung werden auch insbesondere in den USA die Anhänger der beiden großen Parteien sein, wird doch ordentlich gegen Herrn Trump ausgeteilt.
Ist das ein echter Krimi und warum keine 100 Punkte?
Überraschend in Kings neuestem Werk ist, dass "Holly" ganz ohne mystische oder phantastische Einflüsse auskommt. Wurden selbst im Vorgängerroman "Billy Summers" kleine Reminiszenzen zu "Shining" und dem berühmten "Outlook-Hotel" geschaffen, verzichtet die Handlung hier gänzlich auf Ausflüge ins Phantastische. Es ist vielmehr die Geschichte eines Wahns, der aber durch einen schlichten, einfachen Mord erst den berühmten Funken erfährt und sich zu einem Flächenbrand ausweitet.
Ein wenig muss aber auch an dem grandiosen Erzähler Stephen King herumgemäkelt werden, wobei das sicherlich Meckern auf einem hohen Niveau darstellt. Die längeren Passagen über den literarischen Aufstieg von Hollies Freunden Barbara und Jerome interessieren möglicherweise nicht jeden, wenn auch damit die Sorge über die Auswahl zukünftiger Opfer verbunden wird. Schwer nachvollziehbar ist dagegen, warum sich die wackere Heldin - wider besseres Wissen - zuletzt allein dem Kampf gegen die Ungeheuer stellt. Eine richtige Lösung für dieses Verhalten kann auch King nicht anbieten, muss er doch auf die Erklärung zurückgreifen, dass sich auch die Helden der Horrorfilme und davon insbesondere die, die früh aus der Handlung ausscheiden, in der Regel nicht besonders planvoll verhalten.
Fazit
Stephen King - mittlerweile stramm auf die Achtzig zugehend- zeigt keinerlei Altersmüdigkeit und nimmt seine Leser mit auf einen gnadenlos spannenden Horrortrip zum vielleicht allerletzten Tabu der Menschheit.
Stephen King, Heyne
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