Ein Fremder klopft an deine Tür
- btb
- Erschienen: Oktober 2023
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Nesser verfängt sich zu sehr in seinem moralisch-philosophischen Geflecht
Beim aktuellen „Roman“ von Håkan Nesser handelt es sich nicht um eine zusammenhängende Erzählung. Wie es der Untertitel verrät, geht es um „Drei Fälle aus Maardam“. Wie schon in den Romanen der Van-Veeteren-Reihe ist die fiktive Stadt der Schauplatz aller drei Erzählungen.
In der ersten Geschichte „Bewunderung“ geht es um Anna Kowalski, die ihren sieben Jahre älteren Mann aus Sicherheit und weniger aus Liebe geheiratet hat. Der Ehealltag ist daher auch eher routiniert und nüchtern. Als sie ein Kuvert im Treppenhaus zwischen ihrer Wohnung und der der jungen Wilma Verhoven findet, nimmt sie es an sich. Ein Unbekannter scheint für die Adresssatin zu schwärmen. Als Anna einen weiteren Briefumschlag und später sogar eine Einladung in die Oper erhält, verfängt sie sich in einem seltsamen Geflecht aus Sehnsucht und Fremdheit. Plötzlich wird Annas Nachbarin Wilma erschlagen in ihrer Wohnung gefunden. Die Tote hatte eine engere Beziehung zu Annas Familie, als diese weiß. Auf ihrer Suche nach dem unbekannten Kavalier verschwindet Anna plötzlich spurlos. Aber sie hat eine Liste der Männer hinterlassen, die möglicherweise hinter den Briefen stecken.
Die zweite Erzählung „Buße“ handelt von einem 64-jährigen Übersetzer, der zurückgezogen und allein in Maardam lebt. Von seinem Anwesen fährt er immer wieder mit dem Bus in die Stadt. Plötzlich sieht er während einer Fahrt eine Teenagerin, die ihn an eine Nacht erinnert, die sein Leben für immer verändern sollte. Für ihn gibt es seitdem nur eine Erinnerung. Fast täglich fährt er fortan mit derselben Buslinie, um das Mädchen zu sehen. Als er bemerkt, dass diese verletzt wurde, will er ihr helfen. Denn nun scheint er die Möglichkeit zu haben, für seinen Fehler in der Vergangenheit Buße zu tun.
Zuletzt geht es in „Ein Fremder klopft an die Tür“ um die Folgen eines stürmischen Januarabends, als es unvermittelt an Judith Millers Tür in einem abgelegenen Haus mitten im Wald klopft. Sie öffnet, ohne zu wissen, wen sie vorfinden wird, und ohne zu wissen, dass ihr Leben in dieser Sekunde eine völlig neue Richtung einschlagen wird. Als sie nun 18 Jahre später in der Zeitung eine Todesanzeige liest, holt sie die Vergangenheit ein und ihr Leben scheint wieder eine neue Wendung zu nehmen. Aber ist es das wert?
Der große Schwede
Håkan Nesser gilt neben Henning Mankell und Stieg Larsson sicherlich zu den einflussreichsten und wichtigsten Autoren Schwedens. Weltweite Bekanntheit erlangte der mittlerweile 73-jährige Autor mit seiner elfbändigen Van-Veeteren-Reihe und später mit den Inspektor-Barbarotti-Romanen. Sein vielleicht bestes, aber auf jeden Fall nachhaltigste Werk, ist sicherlich der 1998 erschienen Roman „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“, der in Schweden sogar Schullektüre ist. Man verkennt bei Nesser oftmals, dass er eher ein Romanschreiber ist als ein Krimiautor, auch wenn man ihn hierfür kennt. Der Schwede studierte neben Englisch, Literaturgeschichte, Nordische Sprachen, Geschichte auch Philosophie. So verwundert es kaum, dass der „ältere“ Nesser sich in seinen letzten Romanen zunehmend mit Themen des Denkens, Erkennens und Verantwortens auseinandersetzt. Fragen des moralischen Pflichtgefühls und der Umgang mit einer schicksalhaften Begebenheit, die die Figuren plötzlich und unerwartet aus ihrem Alltag reißt, stehen zunehmend im Mittelpunkt seiner Romane und Erzählungen.
Bedächtig, aber tiefgründig
Im aktuellen Erzählband „Ein Fremder klopft an die Tür“ geht es - wie der Untertitel verrät - um drei „Fälle“. Damit sind aber weniger Kriminalfälle gemeint, sondern es geht jeweils um ein Ereignis, das dem Leben der Protagonisten unerwartet eine neue Richtung gibt. Anhand dieser Beispielfälle skizziert Nesser, wie die Menschen in diesen veränderten Situationen handeln und überlässt es den Lesern, dies zu werten. Auch wenn bei allen Erzählungen Kriminalinspektor Jung, der Nachfolger des bekannten van Veeteren, mehr oder weniger Teil der Handlung ist und es darüber hinaus stets um ein Verbrechen geht, stellen die Geschichten keine klassischen Kriminalerzählungen dar. Denn auffallend ist, dass in keiner der drei Texte das eigentliche Verbrechen im Fokus der Handlung steht.
Sicherlich ist Håkan Nesser ein großer Erzähler und er besitzt ein großartiges Schreibtalent. Für einen Spannungsautor, dessen neuestes Werk auch vom Verlag als Kriminalerzählung beworben wird, dürfte die ruhige, tiefgründige Erzählweise für manche Leser vielleicht zu wenig sein. Dennoch sind die Geschichten auf ihre Art durchaus lesenswert, gerade weil sie mehr sind als klassische Kriminalerzählungen.
Fazit
Håkan Nessers Romane werden zunehmend zu philosophische Erzählungen über Verantwortung, Erkenntnis und Moral. Nesser entfernt sich zunehmend von seinem Image des schwedischen Krimiautors und nähert sich zunehmend seinen Wurzeln als Romanschriftsteller an. Das Ergebnis sind diesmal drei tiefgründige, aber nur mäßig spannende Geschichten.
Håkan Nesser, btb
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