Das Blut der Opfer
- Goldmann
- Erschienen: Oktober 2023
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Freie Bahn dem Wahnsinn.
Oldcastle in Schottland ist trotz seines altertümlichen Namens eine moderne Großstadt. Zumindest das Verbrechen ist in der Gegenwart angekommen, während eine von Finanznot und Personalmangel gezeichnete Polizei bemüht ist den Anschluss zu halten. Aktuell wird die Ermittlungsarbeit zusätzlich durch eine Pechsträhne geprägt: Seit anderthalb Jahren treibt der „Bloodsmith“ sein Unwesen - ein Serienkiller, der seine Opfer nicht nur grausam tötet, sondern auch ausweidet.
Politik, Medien und Öffentlichkeit rasen, von ganz oben in der Polizeihierarchie nimmt der Druck nach unten stetig zu. Detective Sergeant Lucy McVeigh gehört zu denen, die zunehmend frustrierter den „Bloodsmith“ jagen. Die Beamtin kämpft noch mit anderen Schrecken. Sie konnte schwer verletzt einem Serienvergewaltiger entkommen, den sie in Notwehr umgebracht hat. McVeigh verdrängt die psychischen Folgen, die sich verstärken, während sie entschlossen und manchmal erfolgreich in Begleitung des geplagten Detective Constable Duncan „Dunk“ Fraser den dürftigen Spuren folgt.
Nicht nur der „Bloodsmith“ sorgt für Stress. Benedict Stratton, der als ein Kind einen Obdachlosen getötet hat, wird nach vielen Haftjahren entlassen. Er ist psychisch völlig aus dem Lot geraten, kündigt einen weiteren Mord an und taucht dann erfolgreich unter. Dass die Spur in eine renommierte Eliteschule führt, hinter deren Kulissen es keineswegs so nobel zugeht wie behauptet, erkennt McVeigh erst, als sich alle losen Enden zum finalen Knoten schürzen, der sich allerdings um den Hals der ungestümen Polizeibeamtin zusammenzuziehen droht …
Zurück in der Stadt des Schreckens (und des Regens)
Noch lesen wir nicht von ihnen, aber da die Bewohner der Welt des Autors Stuart MacBride ein gemeinsames Universum teilen, stehen die Chancen gut, dass sie uns begegnen werden: Vor Lucy McVeigh machte ihr Polizeikollege Ash Henderson die Reviere und Straßen von Oldcastle unsicher. Mit ihm sowie mit MacBrides ‚Primär-Antihelden‘ Logan McRae teilt sie eine Gegenwart, die sich politisch und gesellschaftlich in Auflösung befindet. Eigennutz, Gier und die absurde Selbstzerstörung eines Systems, das seine Bürger weder schützen kann noch will, sorgen für eine dauerhafte, kollektive Weltuntergangsstimmung, die MacBride gern durch das Wetter unterstreicht: Auch in „Das Blut der Opfer“ herrschen wieder Düsternis, Nebel und Dauerregen.
Auch die inhaltliche Struktur folgt bekannten Vorgaben. Nicht nur der Fall „Bloodsmith“ steht im Mittelpunkt des Geschehens. Es gibt weitere Verbrechen, die scheinbar, aber nicht zwangsläufig mit der Jagd nach dem Killer in Zusammenhang stehen. Wir Leser wissen hier mehr als die Polizistin, was uns jedoch wenig nützt, da MacBride viel zu ausgefuchst ist, um sich durch ‚informiertes‘ Lektürepublikum festnageln zu lassen.
Polizeiarbeit ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel sowie die Tücke des Objekts. Mit nie erlahmendem Einfallsreichtum schildert der Verfasser einen Alltag, der von Improvisation und Frustration geprägt ist. Nie gibt es genug Geld für Personal und Ausrüstung, und mehr als die Mehrheit der Beamten hat innerlich längst gekündigt und schlägt vor allem die Zeit bis zur Rente tot. Von ‚oben‘ dürfen sie nur Druck, Sparpläne und absurde ‚Neuorganisationen‘ erwarten; längst sind die Unterschiede zwischen Polizei, Justiz, Politik und Medien aufgeweicht.
Nicht ohne Widerstand in den Untergang
Lucy McVeigh scheint zu den klassischen Ermittlerfiguren zu gehören, die sich störrisch gegen den Strom stellen und ihren Job erledigen. Dafür riskiert sie den Undank von Bürgern, die sie in ihrem Zorn durchaus körperlich angehen, und steht genretypisch ständig im Kreuzfeuer missbilligender Vorgesetzter, zumal McVeigh längst dazu übergegangen ist Vorschriften ‚auszulegen‘, um nicht im Dickicht absurder Verwaltungsvorgaben zu versacken. Ebenfalls krimi-klassisch steht ihr ein Untergebener zur Seite, der ungeachtet ausgeprägter Seltsamkeiten seiner Chefin den Rücken freihält.
Der Polizeialltag ist zwar nicht der buchstäbliche Wahnsinn, wie ihn MacBride in seiner Reihe um Logan McRae (und die unvergleichliche Roberta Steel) entfesselt. Schon in den Romanen um Ash Henderson hat der Autor den Irrwitz-Faktor heruntergefahren, ohne ihn darüber ad acta zu legen: Immer wieder bringt er sich in kruden Szenen in Erinnerung.
Damit legt MacBride uns dieses Mal eine Schlinge, in die er uns im letzten Viertel dieses Romans tappen lässt. Hier scheint sich die Geschichte allmählich auf die Zielgerade zu begeben. Viele Fragen sind geklärt, und Lucy McVeigh entwirrt endlich einen Mehrfach-Fall, der endlich einmal gänzlich aufgeklärt und gesühnt werden kann. Dann sorgt MacBride für eine Überraschung und gibt seiner Story einen Twist, der zunächst geradezu absurd wirkt. Es dauert eine Weile, bis MacBride einerseits erzählerisch wieder festen Boden unter die Füße bekommt, während wir Leser andererseits akzeptieren, auf welche bizarre Odyssee wir uns nun begeben sollen. Irgendwann siegt die Neugier. Wir lassen uns auf die Wende ein.
An der Angel des Autors
Ohnehin waren wir nicht ungewarnt. MacBride hat von den klassischen Rätselkrimis den Aspekt des ‚fair play‘ übernommen, auch wenn er ihn zeitgemäß variiert: Also weiß er immer mehr als seine Leser, lässt uns aber keineswegs völlig im Dunkeln tappen. Immer wieder gibt es Szenen, die spürbar mit dem Geschehen brechen. Hier gilt es aufzupassen: Da MacBride bald wieder zum Hauptstrom zurückkehrt, wundern wir uns womöglich, nehmen es aber hin bzw. warten bestenfalls ab, was sich daraus entwickeln mag.
Dass dies buchstäblich mit einem Donnerschlag einhergeht, kommt wie gesagt unerwartet. Natürlich lässt sich der Plot in diesem Punkt kritisieren. MacBride geht sehr weit in seiner Beschwörung einer kaputten Gesellschaft, indem er dieses Mal nicht nur einen widerspenstigen Einzelkämpfer für Recht und Moral sorgen lässt, sondern dem Wahnsinn konsequent einen Weg an die Spitze bahnt.
Mit ‚Realität‘ mag dieser Ausgang der Geschichte wenig zu tun haben. Doch die Gegenwart ist in sämtlichen Romanen von Stuart MacBride immer auch eine Folie und die Krimi-Handlung ein Echo. Insofern sollte man sich hüten, MacBrides Thriller auf ihren absurden Humor zu reduzieren. Hinter dem Lachen verbirgt sich bekanntlich viel Schmerz. Davon ausgehend ist man gespannt auf eine mögliche Fortsetzung der McVeigh-Geschichte. Es gibt nun eine beunruhigende Komponente, die eine überforderte Polizistin in eine unheimlich effiziente Ermittlerin verwandelt, und es ist offen, auf welchem der Adjektive das Schwergewicht liegen wird ...
Fazit
Der „Standalone“-Krimi des schottischen Verfassers stellt eine neue Ermittlerfigur in den Mittelpunkt, bleibt aber der Darstellung des Verbrechens als Spiegelbild des modernen gesellschaftlichen Pandämoniums treu; riskant ist ein wagemutiger Twist, aber auf der Zielgeraden legt die Story wieder an Trittsicherheit und Spannung zu: solide Krimi-Kost ohne Schmalzlasten.
Stuart MacBride, Goldmann
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