Verschwunden

  • Ullstein
  • Erschienen: Januar 2023
  • 1
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonJan 2023

Das zu Tode gerittene Rätsel

In der Nacht zum 8. März 2014 startet auf dem Koala Lumpur International Airport ein Verkehrsflugzeug des Typs Boeing 777. 239 Männer, Frauen und Kinder begeben sich auf den kurzen Luftweg von Malaysia in die chinesische Hauptstadt Peking. Es ist ein normaler Flug an Bord eines neuen Flugzeugs, dessen Typ für seine Sicherheit gerühmt wird. In der Steuerkanzel sitzt eine fähige Crew, das Wetter ist vorzüglich, die Route gut per Radar überwacht.

Mit einem Zwischenfall ist zwar trotzdem zu rechnen, doch was kurz nach 1 Uhr geschieht, entwickelt sich zu einem der größten Rätsel der modernen Luftfahrt: Flug MH370 verschwindet - und zwar spurlos, obwohl kurze Zeit später zu Wasser, zu Lande und in der Luft eine umfassende Suche beginnt, die sich über mehrere Wochen, dann Monate und schließlich Jahre hinzieht. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Von MH370, der Besatzung und den Passagieren, ihrem Gepäck oder der Ladung findet sich nichts, das diesem Flug einwandfrei zugeordnet werden kann.

Schon kurz nach der Katastrophe bricht Misstrauen aus. Wie sorgfältig wird eigentlich nach dem Jet gesucht? Geschieht dies dort, wo ein Absturz oder eine Notlandung realistisch ist? Was ist an Bord geschehen? Hat das Flugzeug wirklich, wie offiziell verkündet, mit abgeschalteten Ortungsgeräten und funkstumm den Kurs gewechselt und ist hinaus auf den offenen Indischen Ozean geflogen, um schließlich mit leeren Kerosintanks ins Meer zu stürzen?

Die ‚Suche‘ nach MH370 entwickelt sich zu einer Kette absurder, peinlicher und verdächtiger Aktivitäten, die letztlich zu der Annahme führen, das Flugzeug sei womöglich ‚versehentlich‘ abgeschossen, entführt oder von seinem übergeschnappten Piloten versenkt worden. Parallel tauchen jene Spinner auf, die auf Raum-Zeit-Falten, UFO-Attacken und ähnlichen Unsinn tippen.

Lockruf des Unbekannten

Seit MH370 verschwand, haben sich zivile und militärische Institutionen, aber auch Wissenschaftler, Schatzsucher, Glücksritter und natürlich Journalisten aus vielen Ländern bemüht, das Mysterium zu lüften. Zu ihnen gehört die französische Journalistin Florence de Changy, die seit Jahrzehnten für verschiedene Medien ihres Heimatlandes in Südostasien tätig und dort gut vernetzt ist.

„Verschwunden“ ist das Resümee von Nachforschungen, die sich über Jahre hinzogen. In Frankreich erschien dieses Buch bereits 2016, doch die deutsche Ausgabe basiert auf der fünf Jahre später auf Englisch veröffentlichen Neuausgabe, für die de Changy ihr Werk überarbeitete, korrigierte und aktualisierte. „Verschwunden“ ist ein Sachbuch, das einen umfassenden Blick auf die nie aufgeklärte Tragödie bietet. Darüber hinaus wird man als Leser quasi Zeuge einer Ermittlungs-Odyssee, die de Changy in ein Reich der Täuschung und Lüge, des Irrtums und der Fehlinterpretation führte, das aufgrund des Internets buchstäblich grenzenlos ist.

An vorderster Front beteiligt sind Politiker, Konzerne, Militärs und Geheimdienste diverser Länder, die sämtlich entweder unfähig sind oder etwas zu verbergen haben. De Changy listet die möglichen Ereignisse und Motive auf, kommentiert und beurteilt sie, bevor sie ihre eigene These vorstellt. Dies ist der Moment, an dem dieses penibel recherchierte Buch einen Bruch erfährt, denn wie sich herausstellt, reiht sich die Autorin letztlich in die Schar derer ein, die absolut sicher ‚wissen‘, was tatsächlich geschehen ist, ohne jedoch vorlegen zu können, was einzig zählt: schlüssige, eindeutige Beweise.

Die Wahrheit als Instrument und Ware

Man kann de Changy trotzdem bewundern, wenn sie ihre Suche nach der Wahrheit als frustrierendes Herumstochern in einem Nebel beschreibt, der nicht unter dem Mangel an Belegen leidet, sondern an einem Informationswust, unter dem die tatsächlichen Ereignisse begraben wurden. Malaysia ist eine Quasi-Diktatur, in der jene ‚Fakten‘ gelten, die seitens von Regierung und Militär verbreitet werden. Aber auch ausländische ‚Helfer‘ wie China, Australien, die USA oder Frankreich muss man mit Misstrauen betrachten: Südostasien ist ein Tummelplatz diverser geheimer Operationen, die unbedingt unter Verschluss gehalten werden sollen. Ist MH370 also einem ‚Unfall‘ in Gestalt einer gut gezielten, aber irrtümlich abgefeuerten Rakete zum Opfer gefallen, würden die Verantwortlichen ihre Macht einsetzen, um sich dafür nicht verantworten zu müssen.

Zu diesem Schluss kommt jedenfalls de Changy, die solches Verhalten mit deprimierend schlüssigen Belegen ‚nachweisen‘ kann. Nichtsdestotrotz steht auch sie - es sei wiederholt - nach 500 Seiten mit leeren Händen da. Man kann sich auf ihre Argumentation einlassen, aber die Autorin selbst ist redlich genug darauf hinzuweisen, dass sie sich irren mag.

MH370 ist weiterhin ein wunder Punkt, der Fragen aufwirft. Gestellt werden sie von den Angehörigen und Freunden der Passagiere und Besatzungsmitglieder, deren Leid de Changy in ihre Darstellung einfließen lässt, aber auch von jenen Zeitgenossen, die ein Mysterium fesselt. Die Autorin zappelt bald in einem Netz, das aus ‚Informationen‘ gewoben ist, die größtenteils falsch sind. Fatalerweise könnten sich Fragmente der Wahrheit darunter verbergen. De Chancy hat viel Mühe und Zeit darin investiert, fragmentarische und fragwürdige, aber potenziell vielversprechende Info-Krümel auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklopfen. Sie musste feststellen, dass sie weder der Flut schlecht oder gar nicht belegbarer ‚Hinweise‘ aus dem Internet noch den möglichen Vertuschungen gewachsen ist.

Ende offen oder: Die Hoffnung bleibt

Die Freude am Rätsel ist der elementare Treibriemen, der den klassischen Krimi am Leben hält: Wer war es, und aus welchem Grund geschah die Tat? Das Verschwinden von Flug MH370 wurde zum „True-Crime“-Thriller, der diese Faszination noch einmal auf eine höhere Ebene treibt, denn hier wird eine wahre Geschichte erzählt. Die 239 Opfer waren echte Menschen, ihr Tod ist ‚bestenfalls‘ die Folge eines tragischen Unfalls, aber möglicherweise Teil einer kriminellen Verschwörung.

De Chancy setzt auf denselben Mechanismus, der ihre Nachforschungen behinderte - den „menschlichen Faktor“, hier komprimiert in der Erkenntnis, dass in der Historie kaum ein Geheimnis ewig gewahrt werden konnte. Irgendwann brechen auch aufwändige Dämme - und dann kommt womöglich selbst das Internet zu neuer Geltung, weil ein Whistleblower die Katze aus dem Sack lässt. Bis es soweit ist, bleiben (Sach-) Bücher wie dieses reine Planspiele. Es kann so gewesen sein, aber es gibt keinerlei Gewähr.

Interessanter ist wie so oft nicht das Ziel, sondern der Weg dorthin. Die Autorin hat mehr als genug Fragwürdigkeiten, offizielles Versagen und Schönreden aufgedeckt. Löblich und spannend ist die Schilderung einer Schnitzeljagd, die über mehrere Kontinente und Ozeane führt. Dabei schont de Changy die eigene Branche bzw. jenen Teil der Medien nicht, die um der schnellen Sensation willen absurde ‚Neuigkeiten‘ verbreitet, ohne sich um eine Absicherung zu kümmern. Hier zeigt sich die eigentliche Qualität dieses Buches (dessen monoton-‚farbiges‘ und kontrastschwaches Cover übrigens eine gesonderte Negativ-Erwähnung ‚verdient‘).

Fazit

Immens faktenreiches, gut recherchiertes Sachbuch, das quasi sämtliche Theorien über ein weiterhin ungelöstes Rätsel aufzählt und erläutert, mit begründeter Kritik nicht spart, aber eine eigene ‚Lösung‘ präsentiert, die faktisch ebenso grundlagenschwach ist wie jeder andere Erklärungsversuch.

Verschwunden

Florence de Changy, Ullstein

Verschwunden

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