Die marmornen Träume
- Klett-Cotta
- Erschienen: Februar 2023
- 11


Das Böse wird Maßstab des Lebens.
Im Sommer des Jahres 1939 üben die Nazis seit mehr als sechs Jahren ihr Terrorregime aus. Nach außen stehen alle Zeichen auf Sturm; der von Hitler angezettelte Krieg ist unausweichlich. Innen setzt das Regime seinen systematischen Vernichtungskrieg gegen Juden, chronisch Kranke u. a. „Feinde des Reiches“ fort. Gestapo und SS arbeiten entsprechende Listen ab, Gefängnisse und Konzentrationslager füllen sich.
In Berlin sorgt eine Mordserie für unerwünschtes Aufsehen, zumal die Opfer die Ehefrauen hochrangiger Nazi-Funktionäre sind. Sie werden grausam ermordet und verstümmelt. Da das Regime behauptet, dass in seinem ‚gesunden‘ Staat derartige Taten nicht mehr geschehen, stehen die Ermittler unter Druck. Zu allem Überfluss verfügt der dem Fall zugeteilte SS-Hauptgruppenführer Franz Beween über keinerlei Erfahrungen als Kriminologe.
Obwohl der Fall geheim ist, gerät der Psychiater Simon Kraus kurz unter Verdacht: Die ermordeten Frauen waren sämtlich seine Patientinnen. In diesem Deutschland genügt das schon, um als „Verdächtiger“ = Täter angeprangert und verurteilt = hingerichtet zu werden. Nach einigen ungeschickten Versuchen als Ermittler schließt sich Kraus vorsichtshalber Beween an, der wiederum über seinen Nazi-Schatten springt, weil ihm die SS-Führung im Nacken sitzt: Er soll endlich Resultate erzielen und einen für die Medien tauglichen Mörder bringen! Für die notwendigen Beweise wird man sorgen.
Dritte im Bunde wird die adlige Minna von Hassel, die ein Institut für Geisteskranke leitet. Sie hofft auf die Unterstützung des SS-Mannes, denn man will ihr Haus schließen und die Insassen umbringen. „Euthanasie“-Maßnahmen laufen reichsweit an und gehören zum „Arisierungsprogramm“ des Regimes.
Das ungleiche Trio tritt gegen ein durchorganisiertes Reich des Bösen an. Doch es gibt Lücken, und Erkenntnisse stellen sich ein: Offenbar fürchteten alle Opfer den „Marmormann“, der eine aus Stein gefertigte Maske trägt. Sie sichert ihm Anonymität, was die Nachforschungen erschwert und in die Irre führt. Zu allem Überfluss bricht am 1. September der Krieg aus. Berlin gerät in Aufruhr - ein Chaos, in dem Beween, Kraus und von Hassel leicht entdeckt werden, sich aber auch verbergen können, während sie sich dem tödlichen Geheimnis nähern ...
Unter weitgehendem Ausschluss der Wirklichkeit
Je weiter die Nazi-Ära in der Zeitgeschichte verschwindet, weil die Zeitzeugen sterben, desto stärker entwickelt sie sich zu einem Spielplatz oberflächlich ‚realistisch‘ verbrämter, dramaturgisch verfremdeter Gruselgarne. „Die marmornen Träume“ ist ein Paradebeispiel für eine solche Aneignung historischer Fakten, die (keineswegs ungeschickt) verwirbelt und neu kombiniert eine Geschichte ergeben, in der die Spannung durch ‚verbotene‘ Nazi-Bosheit auf die Spitze getrieben wird.
Das ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Tatsächlich wurden solche auf den simplen Horror heruntergebrochene Thriller schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst. In den 1960er bis 1990er Jahren stellten sie ein eigenes Subgenre mit beachtlichem Titelausstoß dar. Die Intensivierung und vor allem Sensibilisierung einer Forschung, die sämtliche Aspekte des Nationalsozialismus’ unter die Lupe nahm und dessen Mythen als hohle Lügen entlarvte, sorgte nicht wirklich für ein Ende solcher Trivialisierungen. Stattdessen lernten die Autoren, die weiterhin auf dieses Pferd setzten, dass und wie sie realhistorisches Unrecht glaubhaft anprangern mussten, um es ansonsten wie zuvor unterhaltsam nutzen zu können.
Wie man auf diese Weise Bestseller in Serie produzierte, zeigte nachdrücklich der bereits verstorbene Philip Kerr mit seiner Serie um den Ermittler Bernhard Gunther, der im Sumpf des „Dritten Reiches“ halbwegs sauber zu bleiben versucht. Der Bogen zu Jean-Christophe Grangé ist leicht geschlagen, denn auch er entwirft ein theatralisches Spiegelbild der Nazi-Epoche, in denen Figuren wie Simon Kraus, Franz Beween und Minna von Hassel einen spannenden, aber absolut absurden Verschwörungsthriller er- und überleben. „Die marmornen Träume“ liegen in dieser Hinsicht auf einer Ebene mit ähnlich grotesken Film-Kasperaden à la „Inglorious Basterds“ von Quentin Tarantino.
Ein unwahrscheinliches Trio
Lässt man sich darauf ein, mit Gewissensbissen, Nazi-Teufeleien und Schockeffekten konfrontiert zu werden, die ausschließlich fiktive Figuren betreffen, während die grausame Realität Folie bleibt, darf man sich über einen Thriller freuen, der über 600 Seiten ausgezeichnet funktioniert, d. h. für Unterhaltung sorgt, die man halt nicht hinterfragen sollte. Grangé schreibt aus der Perspektive dessen, der schon weiß, wie dieses Drama = das „Dritte Reich“ - ausgehen wird. Seinen Protagonisten gönnt er entsprechende Ahnungen an eine dunkle Zukunft, die mit der rotbraun strahlenden Nazi-Gegenwart nur dann in Einklang zu bringen sind, wenn man ein „Gewissen“ entwickelt.
Dieser Prozess nimmt viele Seiten in Anspruch. Unsere drei Protagonisten benötigen Zeit und düstere Erfahrungen, um am Regime zu zweifeln und zumindest in den inneren Widerstand zu gehen. Den längsten Weg muss verständlicherweise Franz Beween gehen, den Grangé als Vorzeige-Nazi einführt. Das beinhaltet ganz selbstverständlich einen Alltag voller Terror, Folter und Mord, weshalb es dauert, bis dahinter der Mensch Beween zum Vorschein kommt; eine Wiedergeburt, die Grangé nicht wirklich gelingt, da er den Nazi-Beween zuvor gar zu glaubhaft dämonisiert hatte.
Simon Kraus ist ebenfalls kein Sympathieträger als zynischer Mitläufer, der in die andere Richtung schaut, wenn er mit dem Nazi-Unrecht konfrontiert wird. Hauptsache ist, dass er selbst von den Verfolgungen ausgespart bleibt. Sein Weg zur Wahrheit ist ebenfalls dramatisch, wiegt aber frühere Vergehen nicht auf, auch wenn diese sich hauptsächlich gegen ‚böse‘ Nazis richteten. Ähnlich fragwürdig bleibt Minna von Hassel, die Suff und Sucht kultiviert, um diffusen adeligen Idealen zu folgen, die angeblich über die Nazi-Pest hinausreichen.
Die letzten Dämme brechen
Wie zu erwarten scheitern unsere drei Anti-Helden jede/r auf seine/ihre Weise. Um ihnen die ‚neue‘ Welt vor Augen zu führen, lässt Grangé den Nazi-Arzt bzw. Funktionär Mengerhäusen ihre Wege kreuzen. Der Autor formt ihn als Mischung aus dem realen Nazi-Schlächter ‚Dr.‘ Josef Mengele und dem leutseligen, diabolisch pseudo-menschlichen SS-Standartenführer Hans Landa aus dem erwähnten Tarantino-Film. Mengerhäusen ist ein (abermals von Grangé überspitztes) Paradebeispiel für den Nazi-Staat, der ebenso brutal wie menschenverachtend sein perfides Menschenbild auf sämtlichen Ebenen des Alltagslebens durchzusetzen versucht.
Natürlich - so muss man wohl sagen - will Grangé nicht auf die ‚saftigen‘ Abseitigkeiten des Nazi-Regimes verzichten. Um die „Lebensborn“-Einrichtungen reihen sich unzählige, meist ausgedachte Legenden. So ist es immer, wenn Sex im Spiel ist. Ein ‚Zuchtprogramm‘ für ‚arische Übermenschen‘ mag Reichsführer SS Heinrich Himmler durchaus vorgeschwebt sein, doch in der von Grangé inszenierten Intensität hat es nie existiert; ein Manko, das als solches nur stört, wenn man das hier gesponnene Garn ernst nimmt. Nazis und Sex sind in der Kombination besonders verwerflich und deshalb publikumstauglich. Grangé kann hier auf den Nachhall eines Exploitation-Kinos setzen, das Nazi-Nackt-Trash wie „Ilsa: She-Wolf of the SS“ (1975) über die Welt brachte.
An die Zeitgeschichte veranschaulichenden Details spart Grangé nicht. Er hat sich gut eingearbeitet in den Berliner Alltag von 1939. Auf sämtlichen Ebenen weiß er genug, um seine Geschichte/n plausibel klingen zu lassen. Der Grundton ist über weite Strecken bewusst ironisch; der Verfasser will auf die Diskrepanz zwischen Alltag und Angst hinweisen. Allerdings zieht er auf diese Weise eine zusätzliche Reflexionsebene ein und unterstreicht (unfreiwillig?), dass hier eine Geschichte erzählt wird. Immerhin gelingt ihm die Darstellung eines kollektiven Mitläufertums, die deprimierend einleuchtend begründet, wieso es so leicht ist, die Augen zu senken, wenn etwas Unrechtes geschieht: „Le Silence“, das Schweigen, lautet deshalb der französische Originaltitel.
Zwischen immer neuen Nazi-Schrecken schlängelt sich die eigentliche Krimihandlung hindurch. Man muss, wie schon gesagt, den Sinn für das „politisch Korrekte“ ausschalten und einem Geschehen folgen, das unterhalten, aber auch für den Horror der Nazis stehen soll. Grangé arbeitet ausgiebig mit den Elementen des Schauerromans. Folgerichtig gibt es kein ‚realistisches‘ Finale, sondern einen Epilog mit düster-märchenhaften Zügen, der einen jener aufgeputschten Pageturner beendet, für die Jean-Christophe Grangé sich seine eigene Nische geschaffen hat.
Fazit
Die Nazi-Jahre und die verübten Alltagsverbrechen werden zur Grusel-Folie für einen bizarren Kriminalfall, der (irgendwie) den Wahnsinn dieser Ära widerspiegeln soll. Die (gut recherchierten) Schauplätze verleihen der kruden, ungeachtet ihrer Länge rasant erzählten Story Glaubwürdigkeit: ein Thriller, der für eine Streaming-Miniserie geschrieben sein könnte und auf diesem Niveau funktioniert.

Jean-Christophe Grangé, Klett-Cotta
Deine Meinung zu »Die marmornen Träume«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!