Wolfsspuren

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  • Erschienen: Januar 2008
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Wolfsspuren
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Michael Drewniok
60°1001

Krimi-Couch Rezension vonNov 2022

Von echten und menschlichen Wölfen

Bevor Anna Pigeon ihre neue Stelle als oberste Polizistin im Rocky-Mountain-Nationalpark antritt, nimmt sie an einem besonderen Forschungsprojekt teil: Auf der Isle Royale, der größten Insel des Oberen Sees im Norden des US-Staates Minnesota und unmittelbar an der Grenze zu Kanada gelegen, wird seit fünf Jahrzehnten das Verhalten von Wölfen studiert. Sechs Wochen soll dieser Einsatz dauern, der Pigeon im eisigen Wintermonat Januar in einen ganz und gar nicht der Wissenschaft gewidmeten Mikrokosmos verschlägt.

Die Politik hat die Forschung instrumentalisiert. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wird die Regierung von der Furcht geplagt, dass Terroristen sich durch unbesiedelte Naturschutzgebiete in die USA einschleichen könnten. Wie dies zu verhindern ist, soll ein Team der Heimatschutzbehörde im Isle-Royal-Park überprüfen. Bob Menechinn, der Chef, hat wenig Verständnis für Ridley Murray, den Leiter des Forschungsteams, dem die Wölfe wichtiger sind als die überall lauernden Terroristen.

In der Winterwildnis weitgehend auf sich gestellt, bauen sich innerhalb der kleinen Gruppe schnell Spannungen auf. Menechinn erweist sich als lautstarker, aber ängstlicher Mann; vor Wölfen fürchtet er sich panisch, was fatal ist, weil sich gerade jetzt ein ungewöhnlich großes und bedenklich dreistes Exemplar auf der Isle Royale herumtreibt. Als Menechinns Assistentin nach einem Streit in die Nacht hinausstürmt, finden die Gefährten später ihre zerrissene Leiche. Doch hat wirklich ein Wolf die Frau gepackt, oder wurde hier ein Mord getarnt? Annas detektivischer Instinkt erwacht, was innerhalb des zerstrittenen Teams nicht unbemerkt bleibt und auch sie das Leben kosten könnte …

Der Mensch ist des Menschen Wolf

Kommen sie zusammen - der politisch korrekte, hier ökologische sowie (sacht) feministische Impetus und der unterhaltsame Kriminalroman? Die Antwort lautet wie so oft: jein. Das klingt nicht günstig, und in der Tat hinterlässt „Wolfsspuren“, der 14. Roman der Anna-Pigeon-Serie einen zwiespältigen Eindruck.

Zu den positiven Seiten gehören die sorgfältigen Figurenzeichnungen sowie eindrucksvolle Beschreibungen einer gleichermaßen unwirtlichen wie faszinierenden Landschaft. Nevada Barr gelingt es, das polare Nordamerika im Winter wie einen fernen Planeten darzustellen. Geschickt konterkariert sie die scheinbare Sicherheit durch moderne Hightech wie Internet und Satellitentelefon mit der weiterhin realen Unmöglichkeit, einen Ort wie die Isle Royale notfalls rettend zu erreichen. Auch im 21. Jahrhundert kann dich dort der Tod beim Googeln in Gestalt klirrender Kälte oder knurrender Wölfe erreichen.

Hinzu kommen die nicht nur im Krimi üblichen zwischenmenschlichen Verwicklungen. Barr nutzt zum Aufbau von Spannung geschickt die Situation einer isolierten Gruppe, die ihrer sozialen Dynamik quasi ausgeliefert ist. Hehre Forschung ist das Ziel, doch Konflikte bleiben dabei keineswegs vor. Die Gruppe zieht an zwei unterschiedlichen Strängen, und auch privat gibt es zahlreiche Reibungspunkte, die zur Entzündung gefährlicher Leidenschaften führen.

Den Menschen stellt Barr die Wölfe der Isle Royale gegenüber. Sie töten zwar unbarmherzig, aber dies nur, um sich vor dem Hungertod zu bewahren. Heimtücke kennen sie nicht, sie folgen ihren Instinkten. Damit bilden sie einen integralen Bestandteil ihres Ökosystems, in dem der Mensch nur ungebetener und oft unfreundlicher Gast und zudem sein eigener Wolf ist, der sehr viel bösartiger umsetzt, was er dem echten Raubtier gern unterstellt.

Die Globalisierung erreicht jeden Winkel

Der Gipfel der Absurdität wird zuverlässig noch immer im realen Leben erreicht. So hat sich der Gedanke, dass böse Terroristen sich unter einen Elchbauch binden, um so heimlich die Nordgrenze der USA zu passieren, tatsächlich in den Köpfen derer festgesetzt, die über die Macht verfügen, ihren paranoiden Gedanken Taten folgen zu lassen. Also treiben sich die Bob Menechinns dieser Welt dort herum, wo sie sich in sicherer Entfernung und außer Reichweite echter Terroristen wichtigmachen können.

Hilflos müssen die in ihrer Forscherwelt gefangenen Wissenschaftler die Eindringlinge gewähren lassen. Bisher waren sie, denen die Ellenbogen für den Karrierekampf fehlen, wenigstens an Orten wie der Isle Royale zeitweise in Sicherheit. Nun folgen ihnen die Pfennigfuchser und Erbsenzähler auch dorthin. Die Reaktion ist ebenso kindisch wie verständlich, die Folgen sind tragisch: Im Bemühen, die Störenfriede zu vertreiben, werden die Wissenschaftler selbst zu Schuldigen.

Während Barr die psychologischen Aspekte dieses Konfliktes gut herausarbeitet, wirkt ihr ‚Lösungsansatz‘ - der gleichzeitig integraler Bestandteil des Krimi-Plots ist - naiv. Vielleicht liegt es daran, dass Barr als Alter Ego von Anna Pigeon eindeutig Partei ergreift. Leider gehen sowohl Begeisterung als auch Empörung mit ihr durch. Die Natur ist schön, mysteriös und mächtig, und wer sich ihr nicht öffnen kann, ist entweder dumm oder böse oder beides. Damit gerät Barr in die ausgefahrene Spur jener Öko-Fanatiker, die man ob ihres Übereifers und ihrer humorlosen Unduldsamkeit bespöttelt und unbeachtet lässt.

Hat endlich jede/r es begriffen?

Selbstverständlich spitzt Barr die prägenden Charakterzüge ihrer Figuren zu. Dabei streift sie die Grenze zur Karikatur. Neben der allzu ätherischen Waldfrau Robin gerinnt ihr vor allem der schon mehrfach erwähnte Bob Menechinn, den Barr nicht nur als naturfernen Karrieristen, sondern auch als Chauvinisten-Schwein brandmarken will, im großen (und schier endlosen) Finale zum Schurken-Witzbold mit Werwolf-Touch, über dessen mörderische Possen man sich nicht entsetzen mag, sondern eher grinsen muss.

Ausgerechnet Anna Pigeon, die Hauptfigur, ist im Grunde eine langweilige Person. Sie leidet unter einem Helfersyndrom, das die Natur ebenso einschließt wie junge und hilflose Mitschwestern, denen Anna gegen die bösen, groben Kerle notfalls auch ungefragt zur Hilfe eilt. Überall und ständig wittert sie chauvinistische Umtriebe, gegen die auch eigentlich ganz anständige Mannsleute nie völlig gefeit sind. Sie gesellen sich zu den anderen Finsterlingen von Pigeons Welt: Politiker, Urlauber, die ihre Trampelfüße in Annas geheiligte Wälder setzen, und die sture Parkverwaltung.

Bis die Fronten geklärt sind, müssen mehr als 250 eng bedruckte Buchseiten durchgehalten werden. Die bis dato erzählte Geschichte ist nicht langweilig, aber Barr bekommt die Kurve zum Krimi erst in letzter Sekunde und dann nur knapp. Das dem Plot zugrunde liegende Verbrechen erweist sich als Import aus der Zivilisation. Er verseucht die grundsätzlich unschuldige Forschergemeinschaft und kulminiert in einem Höhepunkt, der wie angeklebt wirkt, um der Geschichte abschließend ein wenig Dynamik förmlich einzuprügeln. In B-Film-Manier raufen Heldin und Schuft viele, viele Seiten, während die Auflösung längst erfolgt ist. Wahrscheinlich ist es besser so, denn was sich Barr einfallen ließ, um die Mysterien der Isle Royale zu erklären, ist dürftig und leidet als Mordintrige unter tiefen Logiklöchern.

Fazit

Der 14. Band der Serie um die Umwelt-Polizistin Anna Pigeon ist eine etwas unausgegorene Mischung aus Öko-Thriller und Krimi, wobei der eine zu lahm und der andere zu lang gerät. Die offensichtliche Fachkenntnis der Autorin und ihr Talent für die Darstellung einer klirrend kalten Umgebung halten den Leser jedoch bei der Stange, bis in der zweiten Hälfte leidlich Schwung in die Handlung kommt.

Wolfsspuren

Nevada Barr, Weltbild

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