Wer Wind säht, wird Sturm ernten
Es ist niemals nur ein "harmloser Spaß" gewesen: Wer einer jungen, idealerweise angetrunkenen Frau auf ihrem Heimweg folgt, sie deutlich spüren lässt, dass er sich gezielt auf ihre Spur heftet und dabei so richtig Angst erzeugt, der ist in einem Forum der "Incels" (involuntary celibates - also der unfreiwillig zölibatär Lebenden) der Held. Hier wird endlich mal wieder gezeigt, wer der Mann im Haus ist, wer das Sagen hat und was man von der ganzen Me-too-Debatte hält. Anfangs bleibt es dann auch "nur" bei Verfolgungsjagden. Aber im Internet gilt immer nur "Schneller, höher, weiter" und so stellt der erste alsbald ein Video dieser Verfolgungsjagd ein, damit sich das Netz an seinen verängstigten - manchmal weinenden - Opfern ergötzen kann. Aber bald reicht auch das nicht mehr. Der erste kommt auf die Idee, dass das noch gesteigert werden kann. Er will den vollkommenen Terror ausüben und das 24/7. Also muss ein Opfer eingefangen, eingeschüchtert, misshandelt und versklavt werden. Ist man einmal so weit, ist im Prinzip dann auch alles egal, dann kann man auch noch weiter gehen...
Das Monster, das auf dem Heimweg lauert
Claire Allan hat in ihrem ersten, in die deutsche Sprache übersetzten Roman schon mit einer Regel gebrochen: Der allergruseligste, schlimmste Teil steht im Vorwort. Hier wird ein Originalzitat aus einem Incel-Forum veröffentlicht. Ein Mann beschreibt, dass es ein tolles Gefühl ist, einem Mädchen auf dem Heimweg zu folgen und ihr Angst zu machen. Wenn man die Verfolgte nicht belästige - oder gar vergewaltige - dann sei das doch nur ein "harmloser Psycho-Spaß". Es würgt einem im Hals, wenn man es nur liest.
Die irische Autorin thematisiert in ihrem Roman einen neuen, fürchterlichen Auswuchs des Internets, bei dem Männer, die sich als unattraktiv betrachten und sich von Frauen nicht beachtet fühlen, ihre Wut herauslassen und sich zu kranken Challenges herausfordern, die das "Machtgefüge" wieder ausgleichen sollen. Die junge Krankenschwester Nell Sweeney gerät auf dem Heimweg in ein solches Szenario, erlebt bei einem harmlosen Abendessen noch wesentlich schlimmeres und verschwindet. Natürlich beginnt damit ein Albtraum für ihre Familie und Freunde, die alles daran setzen, den Täter zu finden und Nell wieder nach Hause zu bringen. Aus verschiedenen Blickwinkeln schildert Allan, wie sich dieses verzweifelte Rennen gegen die Zeit gestaltet. So sind diverse Kapitel Marian Sweeney, Nells Mutter gewidmet, in anderen kommt Nell selbst zu Wort, in wieder anderen spricht einer der Internet-Täter. Die Leser/innen sind damit derjenigen, die am meisten wissen und so am dichtesten in die Handlung eingebunden werden.
Wäre es dein Kind, was würdest du machen?
Allan gelingt es von der ersten Seite an eine fast schmerzhafte Spannung aufzubauen. Diese wird auch sehr lange gehalten, solange tatsächlich mit den Erwartungen der Leser/innen gespielt wird. Nach der Entführung von Nell wird man Zeuge der absoluten Panik und Verzweiflung, die sich in Nells Familie abspielt, erfährt aber auch, dass diese angeblich heile Welt schon lange an diversen Sprüngen krankte. Hier hätte ich mir für meinen Geschmack aber ein paar mehr Informationen gewünscht. Manches wird nur angedeutet und in einem langen Prozess offenbart. Schrittweise stellt sich dann auch heraus, dass die Frage der Gewalt nicht nur ein Problem des dunklen Heimwegs ist, sondern sich vor aller Augen in den Familien ereignen kann. In diesem Fall bleibt dann allerdings der Aufschrei der Öffentlichkeit aus.
Diese Handlungsstränge vermischen sich aber mit dem eigentlichen Krimistrang und lenken damit auch etwas vom Hauptthema ab. Marian Sweeney überlegt beispielsweise fieberhaft, was ihre Tochter aus dem Haus in die Fänge des Täters getrieben hat und grundsätzlich machen diese Gedanken Sinn, können aber die Handlung nicht wirklich vorantreiben. Anstrengend ist auch irgendwann, dass Marian verzweifelt nach jedem Strohhalm greift und somit - zumindest bei mir - einige Sympathiepunkte verliert. Auch wenn man sicherlich zugeben muss, dass die Mutter eines entführten Mädchens wohl kaum zu durchdachten Taten fähig sein dürfte. Auch die Logik eines Nebenstrangs, der eigentlich nur belegt, dass der Täter nicht zum ersten Mal ein Opfer entführt, erschließt sich mir nicht ganz.
Fazit
Claire Allan erschafft das Albtraumszenario des bedrohten Heimwegs neu und setzt mit einem Internetforum, das sich an Angst und Schrecken aufgeilt, noch einen zusätzlichen Spannungsbogen dazu. Gelungen ist ihr ein atemlos machender Thriller, der bedauerlicherweise nicht nur auf einer literarischen Idee der Autorin beruht.
Claire Allan, Lübbe
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