Der Fall Seestern
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1974
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Ständige Flucht als unterhaltsamer Albtraum
Jason Hand leitet in London einen kleinen Verlag, in dem er das Phantastik-Magazin „Essef“ veröffentlicht. In dessen letzten Ausgabe fand sich plötzlich ein bizarrer Artikel, nach dem der Mensch vom Seestern abstammt. Nicht der obskure Inhalt, sondern die Frage, wieso dies geschehen konnte, beschäftigt den Verlagschef. Von den Mitarbeiter/innen weiß niemand, wie der Beitrag in das Magazin gelangte. Ein Verfasser ist nicht angegeben.
Hand will vermeiden, dass sich der Vorgang wiederholt. Außerdem argwöhnt er kriminelle Umtriebe. Nutzen etwa feindliche (= sowjetische) Spione sein Magazin zur Verbreitung verschlüsselter Nachrichten? Vorsichtshalber engagiert Hand den Privatdetektiv Jonathan Blake, der sich in der „Essef“-Redaktion gründlich umschaut und die dort Beschäftigten unter die Lupe nimmt.
Zudem überwacht Blake das Gebäude. Schon in der ersten Nacht wird es dort lebendig. Die hübsche Vorzimmerdame Janet Payne ließ sich angeblich einschließen, weil sie dem stattlichen Blake nach Feierabend näherkommen will. Aus dem Tête-à-Tête wird nichts, denn drei maskierte Gestalten dringen ein und nehmen Blake ‚gefangen‘, um ihm den ‚Prozess‘ zu machen. Der Detektiv kann die Eindringlinge vertreiben, die ihn mit Jason Hand verwechselt haben. Der ist kurz darauf verschwunden; während eines Rendezvous‘ mit Sekretärin Penny Wallace wird er entführt.
Was geht eigentlich vor? Blake kann dem Geheimnis wenigstens eine Spur entlocken, die aufs Land und in das Heim eines verhinderten Schriftstellers führt. Dort geraten er und die beiden ihn begleitenden Frauen endgültig in den Sog eines bald auch leichenhaltigen Geschehens, in dem sie hilflos in der Frage umhertappen, wer Freund und wer Feind ist …
Das Rätsel als Plot
John Newton Chance (1911-1983) war ein englischer Vielschreiber, der unter diversen Pseudonymen ab 1935 mehr als 150 Romane veröffentlichte; hinzu kamen zahllose Kurzgeschichten. Viel Zeit blieb ihm bei diesem Pensum nicht, um seinen Werken Tiefe und Originalität zu geben; tatsächlich versuchte er es gar nicht, sondern produzierte - Kinderbücher, Science-Fiction und Kriminalromane, die er gern mit mehr als einer Prise Mystery versetzte.
„Der Fall Seestern“ ist ein typischer Chance-Krimi. Die Ausgangssituation ist wunderlich und ist Auftakt einer vielgliedrigen Kette grotesker Ereignisse, die stets ohne Erklärung bleiben, bis im Finale doch die Aufklärung erfolgt - leider, denn was bisher unterhaltsam war, eben weil es keinen Sinn zu ergeben schien und trotzdem spannend ablief, schnurrt zu einem plausibel gemeinten, aber unglaubwürdigen Schwachsinn zusammen.
Bis es soweit ist, trägt die Handlung über Logiklücken und schwache Figuren. Vor allem Janet Payton und Penny Wallace sind Grob-Klischees der 1970er Jahre. „Gleichberechtigung“ bedeutet hier vor allem, dass die Frauen mannstoll werden. Immer wieder fallen Janet und Penny ungeachtet der gefährlichen Lage über Blake her: der missglückte Versuch des schon älteren Autors, einen jener ‚modernen‘ Krimis zu schreiben, in denen Sex als unverzichtbares Element galt (wobei man aus heutiger Sicht weiterhin zugeknöpft blieb). Blake selbst bleibt ein Mann ohne Hintergrund, wodurch er sich perfekt in die kollektive Profillosigkeit einfügt.
Der Weg ist das Ziel …
… und das heißt Unterhaltung. Mit Logik hält sich Chance nicht auf, was seine finalen Bemühungen, die losen Fäden zu schürzen, erst recht torpediert. Der Autor jagt seine Hauptfiguren von einer absurden Situation zur nächsten. Um die daraus resultierende Verwirrung zu steigern, lässt er Jonathan Blake im Dunkeln tappen, wer von den Personen, auf die er trifft, Verbündeter oder Gegner ist. Dies schließt die beiden Frauen und seinen Auftraggeber ausdrücklich ein.
Faktisch gewinnt das Geschehen einen (alb-) traumartigen, unwirklichen Charakter, der durch einen unterschwelligen - manchmal etwas grobschlächtigen - Humor gemildert wird. Der Autor weist selbst darauf hin, dass man dieses Garn nicht ernstnehmen soll. Daraus leitet er offensichtlich die Berechtigung ab, einige der kruden Vorfälle unerklärt unter den Tisch fallen zu lassen. Die fehlende Bodenhaftung der Handlung begünstigt ihn, solange man gewillt ist sich an der Nase herumführen zu lassen.
Zur gewollten Verschleierung trägt Chances Entscheidung bei, die Geschichte entweder im dichten Nebel oder in regnerischer Nacht stattfinden zu lassen. Wer in der Dunkelheit herumschleicht, bleibt offen. Viele Seiten vergehen darüber, Blake und seine Begleiterinnen flüchten zu lassen, wobei man sich ständig verliert und unter verdächtigen Umständen wiederfindet.
Jeder Trick ist gerechtfertigt
Als Vielschreiber kennt Chance keine Skrupel in der Wahl seiner Mittel. Gern streut er scheinbare Hinweise auf übernatürliche Aktivitäten ein. Auch die meist unsichtbaren und/oder maskierten Gegner sind womöglich nicht von dieser Welt. Ihr Benehmen ist sinnfrei, ihre Äußerungen beschränken sich auf die Andeutung weiterer Mysterien.
Die Polizei bleibt vorsätzlich ausgeklammert; wieso, weiß Chance nicht zu begründen, weshalb er die Frage ignoriert. Rationale Ermittlung hat in diesem Umfeld ohnehin nichts verloren. Auch Blake tut nur so, als würde er einer Spur folgen. Er wird vom Regen in die Traufe geworfen, reagiert, statt zu agieren. Öffnet er eine Tür, kommt dahinter ein neues Rätsel zum Vorschein. Fällt die Handlung in ein Loch, taucht notfalls eine zuvor nie erwähnte Person auf und hilft ihr wieder auf die Füße.
Auf diese Weise vergehen knapp 150 Seiten zügig. Als Leser genießt man, was der Autor serviert, denn Chance ist durchaus ein Profi, der zu erzählen versteht. Doch der Moment der Erkenntnis, dass man heiße Luft ins Gesicht geblasen bekommt, kommt wie gesagt im Finale. Natürlich kann man argumentieren, dass dies für ein schräges Garn wie „Der Fall Seestern“ angemessen ist. Dem werden die Leser/innen mehrheitlich ebenso widersprechen wie dem angeblichen Lob-Zitat des „Evening Standard“, das auf dem Cover abgedruckt ist: „Ein Meister des Unheimlichen, Makabren und zugleich ein moderner Autor“.
Fazit
Mit Mystery-Elementen angereicherter Krimi, dessen Spannung auf einer absolut undurchsichtigen, aber interessanten Handlung beruht. Die Auflösung kann der geweckten Erwartung nicht entsprechen und weist diesen Roman deutlich als Werk eines Masse-statt-Klasse-Autors aus.
John Newton Chance, Goldmann
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