Der Tote im Feuer
- Kurt Desch Verlag
- Erschienen: Januar 1963
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Brennende Fragen zu verkohlter Leiche
In dieser nebligen Spätherbstnacht bleibt Jim Boyle, Dorfpolizist in Oakenhead, der ersehnte Feierabend verwehrt. Ein mysteriöser Anruf führt ihn in das Bergland der englischen Grafschaft Derbyshire: Am Langland-Berg habe er einen Mann gefunden, der überfahren wurde, meldet ein Fernfahrer, der anonym bleiben möchte. Boyle rekrutiert Bob Mayfield, seinen Schwiegervater, als Begleiter, und findet an angegebener Stelle tatsächlich eine übel zugerichtete Leiche. Weil es spät geworden ist, legen die beiden Männer sie in der nahen Dorfkirche ab.
In dieser Nacht brennt das Gotteshaus ab. Vom Toten bleiben nur verkohlte Knochen, die eine Identifizierung unmöglich machen. Inspektor Forth, Boyles Vorgesetzter, ist nicht begeistert, als er in Oakenhead eintrifft. Begleitet wird er von seinem Sohn Robert, der gerade aus dem Militärdienst entlassen wurde und sich für die Polizeiarbeit interessiert. Um Forth zu unterstützen, stellt man ihm den jungen Kriminalbeamten Christopher „Kit“ Riddle zur Seite. Robert erkennt in ihm erfreut einen Soldatenkameraden, während Riddle die Vorteile nutzt, die ihm aus dieser Freundschaft erwachsen, denn die wortkargen und misstrauischen Dörfler kennen und schätzen Riddle.
Alle Verdächtigen stammen aus Oakenhead: Hat der alte Mayfield bei der Bergung der Leiche mögliche Mordspuren verwischt, weil sein nichtsnutziger Sohn Dick in die Sache verwickelt ist? War Tierarzt Ken Musgrave wirklich auf dem Weg zum Bauern Welby, als sein Wagen in einen Graben rutschte? Wieso interessiert sich Colonel Bourne so brennend für den Fall? Handelt es sich bei dem Toten um den Sträfling Fredstone, der nach einem Ausbruch seit Monaten flüchtig ist? Auf viele Fragen gibt zunächst keine Antworten, bis Riddle und die beiden Forth-Männer einen gänzlich neuen Ansitz finden und durch viel Fußarbeit sowie trotz einiger seltsamer ‚Unfälle‘ ein kompliziertes und altes Geheimnis lüften können …
„Der Gegenwart entflieht, wer unter die Bauern geht.“
So sprach der österreichische Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) scheinbar weise, aber falsch. Weit verbreitet war und ist das Bild vom Landmann auf seiner Scholle, der dort sitzt, sät und erntet, sein Leben dem jährlichen Wechsel der Jahreszeiten unterwirft und die ‚große Welt‘ ignoriert, weil sie ihn in seinem bäuerlichen Mikrokosmos weder angeht noch interessiert.
Auch Carol Carnac scheint zunächst in diese Kerbe zu hauen. Oakenhead ist ein Dorf, das wie für einen englischen Rätsel-Krimi gegründet wirkt. Die Welt dreht sich hier Ende der 1950er Jahre so geruhsam wie in der guten, alten Zeit vor dem Zweiten oder gar dem „Großen“ Ersten Weltkrieg. Die Erinnerungen älterer Bürger reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück, wichtige Kalendermarken sind Markttage und Dorffeste, die gleichzeitig der Anbahnung künftiger Ehen dienen. Gedacht wird langsam und gesprochen wenig, es sei denn, man klagt über das Wetter oder zu niedrige Erzeugerpreise.
Nach und nach mischen sich Misstöne in dieses trauliche Bild, denn Carnac schwelgt keineswegs in falscher Romantik. Hinter den dicken Mauern alter Höfe spielen sich Dramen ab. „Im Kuhstall erzählen einem die Leute Dinge, die man niemals für möglich gehalten hätte“ (S. 90), weiß der alte Edmund Musgrave, Tierarzt im Ruhestand. Zudem ist die Zeit auch in Derbyshire keineswegs stehengeblieben. Traditionelle Strukturen lösen sich auf. Die Jugend ist unruhig geworden. Dick Mayfield hat keine Lust, seine Tage als unbezahlter Knecht auf dem Hof des Vaters und in vager Erwartung seines Erbes zu fristen. Ihn zieht es in die Ferne, er will etwas erleben.
Geduld bis zur geeigneten Gelegenheit
Der Tote im Feuer war zu Lebzeiten die Erinnerung an ein sorgfältig verdrängtes, aber unbewältigtes Unrecht der Vergangenheit. Kein exotisches Gift oder andere raffinierte Mordmethoden mussten am Langland-Berg zum Einsatz kommen, sondern das Wissen um die Besonderheiten des örtlichen Klimas, was - zu diesem Schluss kommen unsere Ermittler früh - auf einen einheimischen Täter hinweist, der nicht nur weiß, wie dicht tarnender Nebel aufsteigen kann, sondern auch die Schleich- und Wirtschaftswege der Gegend kennt.
Ortskenntnis ist der Schlüssel zur Lösung, weshalb Vater und Sohn Forth sowie Kriminalpolizist Riddle viel Zeit damit verbringen, die Felder und Berge um Oakenhead mit dem Wagen, dem Rad und zu Fuß zu erkunden. Schnell haben sie ermittelt, dass erstaunlich viele Personen in der Mordnacht unterwegs waren und den Tatort passiert haben: Die Bauern des Ortes sind Nebel gewohnt und kommen dort durch, wo der Städter kapituliert.
Auch die Planmäßigkeit der Tat straft die sprichwörtliche bäuerliche Einfalt Lügen. Der Mord wurde begangen und nicht nur als Unfall getarnt, sondern die Leiche kaltblütig verbrannt, um endgültig ihre Identität auszulöschen. Ins Kalkül ziehen müssen die Ermittler zudem, dass der Täter sich ganz offen mit ihnen trifft, sie auf mögliche Verdachtsmomente aushorcht und zu manipulieren versucht.
Ein Dreigespann ermittelt
In „Der Tote im Feuer“ gelingt der Autorin mit der Wahl der Ermittler geschickt die Verknüpfung von Gestern und Heute. Inspektor Forth repräsentiert die korrekte, nicht nur der Dienstvorschrift, sondern auch einem fadenscheinig gewordenen Ehrenkodex verpflichtete Vergangenheit. Der weniger förmliche Christopher Riddle ist ein Kriminalist der neuen Zeit. Er hat den Polizeijob nicht von der Pike auf erlernt, sondern ist als Seiteneinsteiger dazu gestoßen, denn der moderne Ermittler profiliert sich nicht mehr ausschließlich durch Menschenkenntnis und Übung, sondern auch durch Bildung. Männer wie Forth Senior und Jim Boyle werden aussterben. Bis es soweit ist, bleibt dem einen die Rolle des Ratgebers, dem anderen die des einfachen Dorfpolizisten, der für Ruhe und Ordnung sorgt.
Robert Forth bildet die Verbindung. Mehrfach betont Carnac seine ländliche Herkunft, an die er sich jedoch nicht mehr gebunden fühlt. Anders als Dick Mayfield hat Robert Oakenhead hinter sich gelassen. Sollte er zurückkehren, wird dies freiwillig geschehen. Auch mit der Charakterisierung ihrer Figuren verdeutlicht die Autorin, dass sie die Oakenhead nicht als Museumsdorf mit lebendem Inventar betrachtet.
Das gar nicht so friedliche Landleben und den Einbruch der Moderne in eine festgefügte Gesellschaftsstruktur thematisierte Carol Carnac gern in ihren Kriminalromanen. Die Autorin kannte Land und Leute der englischen Midlands; sie bezog sich auf reale Orte, die sie mehr oder weniger verfremdet in ihren Geschichten verwendete. Auch dieses Mal lassen die präzisen Angaben von Wegstrecken und Wanderzeiten realitätsnahe Recherchen vermuten: Auf der Basis des Textes ließe sich eine Landkarte von Oakenhead und Umgebung zeichnen.
Idylle mit Wegmarken
Carnac hält sich an die klassische Vorgabe des „fair play“, das den Leser eng an der Seite der Ermittler hält. Was sie in Erfahrung bringen, wird uns mitgeteilt, bis sie im Finale einen kleinen Endspurt einlegen, der uns ein Stück zurückfallen lässt: Zu guter Letzt wollen wir entweder bestätigt oder - noch besser - überrascht werden, weil uns die Autorin an der Nase herumgeführt hat.
Da Carol Carnac eine professionelle Krimi-Autorin ist, gelingt ihr dies im Rahmen der genreüblichen und hochdramatischen Zusammenkunft aller Verdächtigen, aus deren Runde dem unwahrscheinlichsten Kandidaten die Maske vom Gesicht gerissen wird. So soll ein Rätselkrimi enden. Mit „Der Tote im Feuer“ macht es Carol Carnac (1894-1958), geboren (bzw. verheiratet) als Edith Caroline Rivett-Carnac, richtig. Uns Lesern bleibt zum Schluss nur die ratlose Frage, wieso ausgerechnet ihre Werke vom (deutschen) Buchmarkt verschwunden sind.
Fazit:
In diesem späten, aber klassischen Whodunit räumt die Autorin dem psychologischen Aspekt des Falls ebenso viel Raum ein wie dem Mordrätsel; das Ergebnis ist ein altmodischer, dennoch mehrschichtiger Krimi vor trügerisch idyllischer Kulisse.
Carol Carnac, Kurt Desch Verlag
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