Todesspiel - Die Nordseite des Herzens
- btb
- Erschienen: September 2022
- 8
Mörder auf den Schwingen des Sturms.
Im Sommer des Jahres 2005 nimmt Amaia Salazar, Subinspectora der „Policia Foral“ = der autonomen Polizei der spanischen Region Navarra, an einer Schulung der FBI-Akademie in Quantico, US-Staat Virginia, teil. Diverse Vorträge sowie Kurse werden den Teilnehmern angeboten, wobei sich Salazar in erster Linie für die Arbeit des Dozenten und Ermittlers Andrew Aloisius Dupree interessiert. Er gilt als Spezialist der viktimologischen Analyse, einem jungen Seitentrieb der Kriminologie, der das Wirken noch unbemerkter Mörder durch die Auswertung von Fall- und Vermisstenakten nachweisen kann.
Dupree ruft Salazar in sein Team, das aktuell einen mysteriösen Serienkiller jagt: Der „Komponist“ tritt dort auf den Plan, wo just ein Wirbelsturm getobt hat. In der Verwüstungszone sucht er nach Familien, die seinem Beuteschema entsprechen: Vater, Mutter, drei Kinder und Großmutter. Hat er ‚Glück‘, tötet er die Familie im Rahmen eines bestimmten Rituals.
Da dieser Mörder nicht die Resonanz der Medien und der Öffentlichkeit sucht, sondern einfach töten will, gilt er als besonders gefährlich. Ende August des genannten Jahres hält er sich im Süden der USA auf, wo Tornados regelmäßig toben. Einer dieser Wirbelstürme - er trägt den Namen „Katrina“ - steuert gerade auf die Südstaatenmetropole New Orleans zu. Die Ermittler gehen davon aus, dass der „Komponist“ hier wieder zuschlagen wird. Fieberhaft wird trotz des Chaos vor Ort nach ‚Zielfamilien“ gesucht, um sie in Sicherheit zu bringen. Dupree und sein Team müssen nicht nur einen Mörder aufspüren, sondern auch gegen eine Naturkatastrophe kämpfen, die sie selbst in Lebensgefahr bringt ...
Welt voller Wahnsinn und Grauen
„Die Nordseite des Herzens“ wird von der Autorin als jener Ort definiert, an dem sich der Mensch besonders unglücklich, weil unwillkommen, einsam oder sogar bedroht fühlt. Jede Frau und jeder Mann wird einen eigenen Unglücksort nennen; dies wird zur Grundlage eines Romans, der drei Handlungsstränge aufweist: Dies ist ein seitenstarkes Buch, und Dolores Redondo dreht ein wahrlich großes Rad! Der Purist mag anmerken, dass sie es sogar übertreibt. Aber sie bemüht sich redlich und erfolgreich, ihr Garn mit überraschenden Wendungen, Rätseln und Action-Einlagen aufzuladen. Mehr als 600 Seiten weisen kaum Längen oder gar Durchhänger auf. Stets geschieht etwas, deutet sich etwas an, wird etwas aufgeklärt.
Nichtsdestotrotz gibt es keinen ‚echten‘ Anfang und auch keinen Schlussstrich. Die Ereignisse haben längst eingesetzt, als Redondo als Erzählerin einsteigt, und sie werden sich dort fortsetzen, wo keine vollständige Aufklärung erfolgt bzw. erfolgen konnte. Dies entspricht dem Konzept, nach dem die Autorin auch den vierten Band ihrer Serie gestaltet. Normalerweise rankt sich eine Reihe um eine Hauptfigur, die jeweils im Mittelpunkt des Geschehens steht. Redondo lässt ihre Welt sich dagegen um die nordspanische Kleinstadt Elizondo drehen. Dort befindet sich für Amaia Salazar die Nordseite ihres Herzens, denn in Elizondo wurden die Weichen für ein Leben gestellt, dass sie als Ermittlerin erfolgreich, aber privat unglücklich gemacht hat.
Obwohl nur jener Handlungsstrang in Elizondo spielt, der Salazars unglückliche und von mysteriösen Vorfällen geprägte Kindheit thematisiert, bleibt der Ort quasi eine Blaupause für das Geschehen in den Südstaaten der USA. Immer wieder betont Redondo die Parallelen eines Verbrechens, das nur bedingt rational zu begründen ist. Salazar wurde trotz einer Mutter groß, die nicht nur wahnsinnig ist und ihre Tochter mit dem Tod bedrohte, sondern auch zu einer Sekte gehört, die junge Mädchen entführt und in willenlose Sklavinnen verwandelt. Auf eine sehr ähnliche, womöglich international vernetzte Gruppe trifft Salazar in den USA. Eigentlich soll sie als Teil eines FBI-Teams einen psychotischen Serienmörder fassen, aber diese Ermittlung wird abrupt in eine gänzlich andere Richtung gedrängt, als der zuständige FBI-Agent seine eigene Obsession enthüllt.
Der Schmerz als Quelle der Erkenntnis
Wie Amaia Salazar ist Agent Dupree gleichzeitig ein genialer Kriminologe, aber auch ein Opfer. Sein Privatleben ist ein wohlgehütetes Geheimnis, denn es beinhaltet die Erinnerung an Erlebnisse, die sich mit der FBI-Ideologie nicht in Einklang bringen lassen. Auch Dupree entstammt einer Kultur, die tief in einer mythologiereichen Vergangenheit wurzelt. „Voodoo“ ist für ihn nicht nur ein Wort, sondern durchaus real dort, wo diese exotische Mischung aus Religion und Aberglaube auf fruchtbaren Boden fällt: Wer daran glaubt, kann in einen ‚wissenschaftlich‘ nur ansatzweise zu begründenden Bann gezogen werden.
Redondo spielt mit der Möglichkeit einer ‚jenseitigen‘ Sphäre, die (noch immer) Teil dieser Welt ist. Ob in Navarra oder in Louisiana: Es sind keine „Dämonen“, die ihr Unwesen treiben, sondern Entitäten, die man vorsichtig als Urkräfte einer Erde bezeichnen kann, die ihrerseits ‚lebt‘, womöglich ein Bewusstsein besitzt und sich dem Menschen noch immer offenbart - ein Erlebnis, das in der digitalen Gegenwart des 21. Jahrhunderts einerseits verschüttete Kollektiv-Erinnerungen aufrührt, aber andererseits für Überforderung sorgt. Früher glaubte der Mensch an diese Kräfte und arrangierte sich mit ihnen.
Als Leser muss man bereit sein diesem Ansatz zu folgen. Wenn es gelingt, sorgt diese Dualität für zusätzliche Spannung. Die Herausforderung wird komplizierter, weil eine durch einschlägige Erfahrungen sensibilisierte Polizistin zunächst in einem ungeachtet der Umstände jederzeit rational einzugrenzenden Fall ermittelt. Der „Komponist“ ist ein bizarrer Mörder, doch seine Taten lassen sich erklären und einordnen. Redondo schildert ausführlich entsprechende Diskussionen, die entsprechenden Erkenntnissen langjähriger kriminologischer Forschung folgen. Dass Salazar dieses Wissen einsetzt, ohne sich dadurch Scheuklappen aufsetzen zu lassen, sorgt für eine Verbindung zum „Komponisten“, dessen Verhalten aufgrund seiner Besessenheit gewissermaßen berechenbar ist.
Weltbild auf tönernen Füßen
Die Handlung ist schon weit vorangeschritten, als sich plötzlich eine weitere Ebene öffnet. Agent Dupree nutzt die Jagd auf den „Komponisten“, um „Baron Samedi“ aufzuspüren. Dies ist der Anführer einer Gemeinschaft, die gezielt junge Frauen entführt und in „Zombies“ verwandelt. Redondo lässt offen, ob Samedi ein Mensch ist, der in Verkleidung Angst verbreiten will. Er könnte auch die tatsächliche Inkarnation jenes Totenherrschers sein, der im Voodoo-Glauben eine zentrale Rolle spielt.
Als sich jener Handlungsstrang zuspitzt, der in Salazars europäischer Vergangenheit spielt, zieht Redondo parallel dazu die Mysterie-Schraube an. Auch im Wald um Elizondo spielen sich Dinge ab, die zumindest übernatürlich wirken. Man muss abwarten, auf welche Weise die Autorin dieses Geschehen wieder aufgreift. Womöglich verbergen sich hinter den seltsamen Vorfällen nur Irrtümer, Zufälle und maskierte, menschliche Bosheit.
„Todesspiel“ ist ungeachtet eines Plots, der nur in einem Strang aufgelöst wird, ein spannender, atmosphärisch dichter und effektgezielt recherchierter Thriller. Der Höhepunkt spielt in einem New Orleans, in dem 2005 Tornado „Katrina“ eigene Akzente setzt. Der Sturm sorgt für ein Szenario, dass es in Sachen Grauen und Schwermut mit dem Wirken der diversen Serienkiller aufnehmen kann. Dupree, Salazar und ihre Begleiter verlieren durch die Katastrophe endgültig den Boden unter den Füßen - ein Vorgang mit Symbolcharakter, denn die Not der ‚Guten‘ scheint den ‚Bösen‘ in die Klauen zu spielen: Obwohl Redondo über weite Passagen einen bewusst nüchternen Erzählstil pflegt, weiß sie sehr genau, wie Spannung geschürt bzw. der Kontrast des Unbegreiflichen betont werden kann.
Fazit
Die Jagd auf einen Serienkiller wird durch die persönlichen Traumata zweier Ermittler und das Chaos nach einem Wirbelsturm zu einer gefährlichen Improvisation. Nüchterne Krimi-Spannung mischt sich mit mythologischem Schrecken und transportiert ein Geschehen, dass ein wenig überladen, aber wuchtig und spannend über die gesamte Distanz trägt: kein Thriller von der Stange, trotzdem bzw. gerade deshalb lesenswert.
Dolores Redondo, btb
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