Verdunkelung
- Piper
- Erschienen: Mai 2022
- 3
- Originaltitel: "Blackout"
- Taschenbuch
- 464 Seiten
Serienkiller im Reich der Massenmörder
Im Dezember 1939 ist der von Hitler vom Zaun gebrochene Zweite Weltkrieg in vollem Gange. Noch läuft es an allen Fronten gut für Nazi-Deutschland. Innenpolitisch wird die „Volksgemeinschaft“ auf Kurs gebracht. Die Verfolgung der Juden ist Teil des Alltags, die NSDAP und ihre Nutznießer sind allgegenwärtig. Wer sich jetzt auf die Seite der Nazis schlägt und über kein Gewissen verfügt, kann Karriere machen: eine Gelegenheit für jene, die bereit sind buchstäblich über Leichen zu gehen.
Kriminalinspektor Horst Schenke ist kein Nazi und gehört der Partei nicht an. Das ist ein Problem, nachdem die Kriminalpolizei von der SS übernommen und in die Machenschaften der Nazis eingebunden wurde. Schenke arbeitet in der Reichshauptstadt Berlin, weshalb es ihm erst recht schwerfällt unter dem Radar der Machthaber zu agieren. Er hält sich aus der Politik heraus und will nur Kriminalist sein, ohne für die Drecksarbeit der Nazis instrumentalisiert zu werden.
Damit ist jetzt Schluss, Schenke gerät ins Räderwerk der Nazi-Maschine. Eine ehemalige Schauspielerin wurde vergewaltigt und umgebracht - und sie war nicht die erste Frau, die so zu Tode kam. Serienmord existiert in Nazi-Deutschland offiziell nicht mehr, weshalb Schenke den Täter möglichst rasch fassen soll: Heinrich Müller, der skrupellose Chef der Geheimen Staatspolizei, sitzt ihm persönlich im Nacken. Schenke ist sein potenzieller Sündenbock, sollte der Fall nicht bald gelöst sein. Gleichzeitig wird die Ermittlung behindert und manipuliert. Offenbar gibt es hohe Nazis, die mehr wissen, als sie bekanntgemacht sehen wollen. Schenke und sein Team stehen unter Dauerdruck - und die Morde gehen weiter …
Von der antiken zur modernen Tyrannei
Simon Scarrow ist ein ebenso fleißiger wie talentierter Erzähler. Er schreibt Historienromane und ist bekanntgeworden als Autor einer Serie um zwei römische Soldaten, die immer wieder in kriminelle Umtriebe und Komplotte der Mächtigen ihres Imperiums verwickelt werden. In den letzten Jahren erweiterte Scarrow sein Darstellungsspektrum und verfasste neben der genannten und weiter fortgesetzten Reihe weitere Romane, die nicht mehr in der Antike, sondern u. a. in der napoleonischen Neuzeit und nunmehr in der jüngsten Vergangenheit spielen.
Faktisch ändert Scarrow Zeit und Ort, während der Story-Bogen Ähnlichkeiten aufweist: Das antike römische und das „Dritte“ Reich sind Diktaturen, in denen die Menschenrechte noch nicht bzw. nicht mehr existieren. An der Spitze des Staates stehen korrupte Machtmenschen, die ihre Privilegien missbrauchen und einander befehden. Bestimmte Bevölkerungsschichten werden unterdrückt und verfolgt, Gerechtigkeit ist ein Wert, der von Staatswegen mit Füßen getreten und nur von wenigen Außenseitern hochgehalten wird. Ob die Helden nun Quintus Cato und Lucius Macro oder Horst Schenke heißen, spielt kaum eine Rolle: Einerseits tapfer entschlossen gehen sie ihren Weg, was sie andererseits in Konflikt mit einer Herrschaft bringt, die allen misstraut, die sich nicht offen auf ihre Seite geschlagen hat = zum Komplizen geworden ist.
Ein Großteil der Spannung erwächst aus dem Seiltanz, zu dem sich Schenke gezwungen sieht. Er ist der „gute Deutsche“, der sich nicht in den Sog der von den Nazis verübten Verbrechen ziehen lassen will und dafür seinen Preis zahlt - ein Schicksal, dass wir Leser teilen, denn dies konfrontiert uns mit einer wahren Flut einschlägiger Klischees, wie sie gern in TV- und Streaming-Serien und natürlich in jenen Nazi-Thrillern zum Einsatz kommen, mit denen just die Buchläden gepflastert werden.
Mann in der Klemme
Viele Seiten ringt Schenke dramatisch mit sich und seinem Gewissen. Andere „gute Deutsche“ sowie eine Jüdin auf der Flucht machen ihm wortreich deutlich, dass die innere Immigration keine Lösung darstellt. Polizeiarbeit ist in Nazi-Deutschland politisch geworden, denn sie wird missbraucht, um Regimegegner buchstäblich kaltzustellen. Zusätzlich in die Mangel genommen wird Schenke von seiner Verlobten Karin, die zwar eine Nichte des ranghohen Nazi-Geheimdienstchefs Canaris ist, aber trotzdem demonstrative Regimekritik übt - eine Investition in die Zukunft der Serie, denn Canaris wird sich schließlich dem Widerstand anschließen.
Um diesen Konflikt zu betonen, schildert uns Scarrow die Nazi-Bonzen auf ‚englische‘ Art: Es sind bösartige Raubtiere, die offen das Recht verhöhnen und brechen. ‚Neutrale‘ Untergebene wie Schenke sind ihrer Willkür ausgesetzt. Immer wieder wird ihm gedroht und ‚geraten‘, endlich (braune) Farbe zu bekennen. Als „guter Deutscher“ wird Schenke selbstverständlich nicht schwach, sondern allmählich zum heimlichen Helden, der die Nazis als Rädchen im System bekämpft. Dies hält die Grundspannung aufrecht und trägt Schenke als Hauptfigur einer neuen Serie; tatsächlich wurde „Verdunkelt“ bereits fortgesetzt.
Parallel zum politischen und privaten Drama nimmt der Kriminalfall viel Handlungsraum ein. Der Plot ist simpel; ein Nazi lebt seine meuchelmörderischen Triebe aus. Er geht nicht gerade raffiniert vor, sondern nutzt die Kriegssituation. „Verdunkelung“ lautet der Titel dieses Buches. Er spielt (natürlich auch metaphysisch) auf die allgegenwärtige Finsternis in der Großstadt Berlin an. Kriegsbedingt muss Energie gespart werden, außerdem will man feindlichen Bombern keine Zielbeleuchtung schaffen. Scarrow orientiert sich vage am Stadtplan der frühen Kriegszeit und geht nicht gar zu sehr in Details; eine kluge Entscheidung, denn er vermeidet Fehler und Anachronismen, die sich trotz Recherche leicht einschleichen.
Die Banalen, die Bösen und die Bedrohten
Um die Authentizität zu steigern, lässt Scarrow reale Personen der Zeitgeschichte auftreten. In diesem Band sind es „Gestapo-Müller“ sowohl Admiral Canaris, der Chef der Spionageabwehr. Ein Cameo-‚Auftritt‘ per Telefon bringt sogar Reinhard Heydrich, Chef des berüchtigten Reichssicherheitshauptamts und „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler persönlich unterstellt, ins Geschehen. Hinzu kommen zahlreiche mittlere und niedere Nazi-Chargen, die sich laut Scarrow durch Dreistigkeit und berufliche Inkompetenz hervortun; auch hier entsteht Schenke immer wieder Ärger, da kleinen Nazi-Geister übertragene Macht prinzipiell zu Kopfe steigt.
Die Handlung spielt im Dezember 1939 und kurz vor der Weihnachtszeit in einer nicht nur dunklen, sondern auch klirrend kalten Stadt. Nahrung, Feuerholz und Öl sind bereits rationiert, große Teile der Bevölkerung leiden Not. Dazu gehören vor allem die von aller Versorgung abgeschnittenen Juden, aber auch Alte, Kranke und Arme, die von der „Volksgemeinschaft“ an den Rand gedrängt aussortiert werden.
Scarrow differenziert ein wenig zu scharf zwischen „Nazis“ und „Deutschen“. Erstere sind die ultimativ Bösen, die letztere in einem lockeren Würgegriff halten, der sich schlagartig festigen kann. (Ausnahmen wie Scharführer Liebwitz, der sich auf die ‚gute Seite‘ locken lässt und in Schenkes Team eintritt, bestätigen die Regel.) Die Auflösung wird künstlich verkompliziert und wirkt wieder eher düster als gut begründet. Doch Scarrow schreibt gut (und wird kompetent übersetzt). Flüssig treibt er das Geschehen voran und lässt keine Langeweile aufkommen.
Fazit
Auftaktband einer Serie, die einen ‚neutralen‘ Polizisten als Spielball skrupelloser Nazi-Bonzen und diensteifrigen Ermittler präsentieren, der nicht nur einen Serienkiller stellen soll, sondern auch ins Visier des Regimes gerät: Ungeachtet vieler Klischees à la „Unrecht in finsteren Zeiten“ wird eine spannende Geschichte erzählt.
Simon Scarrow, Piper
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