Paul Temple und der Fall Max Lorraine
- Pidax
- Erschienen: Dezember 2021
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Grüner Finger im Auge von Scotland Yard
Seit Monaten tanzt Scotland Yard eine gut organisierte Verbrecherbande auf der Nase herum. Bei vier großen Überfällen verschwanden Diamanten im Wert von vielen Zehntausend Pfund. Diese Streiche waren generalstabsmäßig geplant, die Täter hinterließen keinerlei Spuren. Unvorsichtige Bandenmitglieder wurden ausgeschaltet, bevor die Polizei sie fassen und verhören konnte.
Die Presse sorgt für Druck, den Chefkommissar Sir Graham Forbes an Superintendent Gerald Harvey und Chefinspektor Dale weitergibt. Sein Zorn wird durch die Forderung geschürt, Scotland Yard solle Paul Temple zu Rate ziehen. Der erfolgreiche Autor gern gelesener Kriminalromane konnte schon einmal einen Fall lösen, der die Polizei vor ein Rätsel gestellt hatte.
Temple drängt sich nicht in die Ermittlung. Dennoch wird er in die Ereignisse verwickelt. Superintendent Harvey ist ein guter Bekannter, der ihn inoffiziell daheim in Evesham, einem in den Midlands gelegenen Städtchen, besucht und um Rat bittet. Temple bewohnt ein hübsches Landhaus, in dem er Harvey eine Unterkunft anbietet. Bevor dieser der Einladung folgen kann, wird er umgebracht.
Die lokale Polizei ist überfordert, weshalb Inspektor Charles Merrit gern Temples Hilfe akzeptiert. Der Autor fühlt sich zusätzlich verpflichtet, denn die Journalistin Steve Trent, die außerdem Harveys Schwester ist, sucht ebenfalls nach dem Täter. Doch Max Lorraine, genannt der „Diamantenfürst“, geniales und gnadenloses Oberhaupt der Räuberbande, ist schon über den neuen Gegner informiert, was den Amateurdetektiv und seine schöne Begleiterin immer wieder in Lebensgefahr bringt …
Britischer König des deutschen Fernsehens
Die deutschen Krimi-Leser, Kinogänger und Fernsehzuschauer der 1960er Jahre liebten Edgar Wallace, Agatha Christie - und Francis Durbridge! Während die beiden Erstgenannten weiterhin bekannt sind, geriet letzterer ein wenig in Vergessenheit. Dabei verdanken wir Durbridge den Begriff „Straßenfeger“ für eine Fernsehsendung, die praktisch sämtliche Zuschauer vor die Bildschirme lockt. Natürlich war dies leichter in einer Zeit, als es nur zwei TV-Programme gab. Einschaltquoten von 90% für Durbridge-Verfilmungen wie „Das Halstuch“ (1962) oder „Melissa“ (1966) wurden jedenfalls nie wieder erreicht.
Francis Durbridge (1912-1998) war hierzulande für mehr als ein Jahrzehnt quasi ein Synonym für spannende, verwickelte, überraschend aufgelöste Krimis. Dies kam nicht von ungefähr, denn Durbridge war nicht nur ein einfallsreicher, sondern auch ein multimedial bestens eingeführter Autor. ‚Daheim‘ war er übrigens wegen seiner Film- und Fernsehdrehbücher, vor allem jedoch wegen seiner Radio-Hörspiele berühmter als für seine Bücher.
Schon in den 1930er Jahren hatte Durbridge für die BBC Krimis geschrieben und umgesetzt. In diesem Zusammenhang war auch der Schriftsteller und Amateurdetektiv Paul Temple entstanden. Diese Geschichte wird in zwei ausführlichen Vorworten erzählt: Übersetzer und Durbridge-Fachmann Dr. Georg Pagitz bzw. Nicholas Durbridge, Sohn des Verfassers, legen dar, wie es zum hier vorgestellten Roman kam, der ungeachtet des Durbridge-Ruhms erst mit 83-jähriger Verspätung in deutscher Übersetzung erscheint.
Im Schatten eines Meisters
Dabei war Francis Durbridge als Buchautor hierzulande lange und mit beinahe sämtlichen Titeln vertreten. Es ist interessant, wieso ausgerechnet „Send for Paul Temple“ nie berücksichtigt wurde. Hier kam das Hörspiel vor dem Roman. Im April und Mai 1938 hatte die BBC den Krimi in acht Episoden ausgestrahlt. Der Erfolg war überwältigend, weshalb dem Stück möglichst rasch ein Kriminalroman folgen sollte, um zusätzlichen Verdienst aus dem Titel zu schlagen: Merchandising gab es schon vor dem Zweiten Weltkrieg. Da der erst 26-jährige Durbridge für schnelle, treffsichere Dialoge bekannt war, sich von einer literarischen Ausarbeitung seines Stoffes jedoch überfordert fühlte, stellte man ihm einen erfahrenen Schriftsteller (der sich „John Thewes“ nannte und bis dato nicht eindeutig identifiziert werden konnte) zur Seite.
Für den ersten Paul-Temple-Roman bediente sich Durbridge ausgiebig bei seinem verehrten Vorbild Edgar Wallace (1875-1932). Er übernahm dessen Hang zu Geheimgängen, verborgenen Räumen und Falltüren, in oder hinter denen überlebensgroße Schurken hinter raffinierten Masken allerlei „unmöglich“ scheinende Übeltaten einfädelten. Wie Wallace ging es Durbridge vor allem um den Aha-Effekt, während die Plausibilitätsfrage sekundär blieb. Was im rasanten Hörspiel-Vortrag als Trigger - so sterben gleich zwei Opfer der Schurkenbande mit den ominösen Worten „Der grüne Finger!“ auf den Lippen - funktionierte oder als Logiklücke nicht auffiel, musste im Roman ausgebügelt werden, was Co-Autor Thewes gut gelingt.
Obwohl die Identität des schon früh in die Handlung integrierten „Diamantenfürsten“ bis ins Finale offenbleibt und der Autor dafür sorgt, dass die Verdachtsmomente nie ausgehen, ist „Paul Temple und der Fall Max Lorraine“ weniger ein klassischer Whodunit als ein früher Thriller, der von ständigen Handlungsschwüngen bestimmt wird. Zwar mag der Autor nicht auf Temples Charakterisierung als genialer Ermittler verzichten, doch ein „armchair detective“, der aus seinem Lehnstuhl heraus den Fall löst, ist er nicht, obwohl sich das Geschehen in einem typischen englischen Landhaus in entsprechend ‚gemütlicher‘ Umgebung abspielt.
„The game is afoot“- aber mit Tempo!
Als Figur ist Paul Temple scheinbar profilstark, bleibt aber dort vage, wo allzu ausgeprägte Individualität die Handlung einengen könnte. Dass Durbridge ein geschäftstüchtiger Profi war, der seine eigenen Werke gern ‚recycelte‘, belegt abermals Pagitz in einem Nachwort: So strich Durbridge später die Hauptfigur Paul Temple, benannte die übrigen Charaktere um und gab der ansonsten kaum veränderten Story einen neuen Namen. Ähnlich handelte er, als 1946 eine Verfilmung unter dem Titel „Send für Paul Temple“ (dt. „Der grüne Finger“) anstand: Für das Drehbuch ‚verschnitt‘ Durbridge die Hörspiel-Vorlage für dieses Werk mit dessen ähnlich erfolgreichen Nachfolger „Paul Temple and the Front Page Men“ (dt. „Paul Temple und die Schlagzeilenmänner“).
Profiltiefe weisen die Figuren generell nicht auf. Allerdings findet man sich als Leser gut damit ab, weil man bemerkt, dass es Durbridge uns ein Garn präsentieren will, das nicht auf Raffinesse gründet. Es dominiert jener Unterhaltungsfaktor, der das Publikum packt und mitreißt. Ist dieser Biss fest genug, lassen wir uns willig mitreißen, selbst wenn der Plot-Mechanismus manchmal ein wenig zu deutlich durchscheint, weil Durbridge Verdachtsmisstrauen nicht entwickelt, sondern uns einhämmern will.
Deshalb ist es erfreulich, dass (übrigens durch einen „Film- und Hörspielverlag“, der hier ‚außer der Reihe‘ ein Buch veröffentlicht) eine Lücke in der deutschen Durbridge-Bibliografie geschlossen wird. Übersetzer Pagitz dokumentiert einen Aufwand, der über reine Übersetzungsarbeit weit hinausgeht und den engagierten Krimi-Freund verrät. Dies entschuldigt die diversen Holprigkeiten einer Übersetzung, die ansonsten den angekündigten Anspruch einer ‚künstlichen‘, die Lektüre-Nostalgie unterstützenden ‚Altersstarre‘ erfüllt.
Fazit
Obwohl Francis Durbridge hierzulande lange ein Erfolgsautor war, blieb ausgerechnet der erste Band der Paul-Temple-Serie ohne Übersetzung, Die nun endlich vorliegende Fassung sorgt für eine nostalgiestarke, weniger raffinierte als rasante Handlung. Umrahmt wird die Übersetzung von ausführlichen, interessanten Hintergrundinformationen.
Francis Durbridge, Pidax
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