Preisgegeben
- Polar
- Erschienen: März 2020
- 1
Originalausgabe erschienen unter dem Titel „Ragged Lake“
- Toronto/Ontario : ECW Press 2017
- Stuttgart : Polar Verlag März 2020. Übersetzung: Boris Koch. Cover: Britta Kuhlmann (nach einem Foto von Andreiuc88/Adobe Stock). 399 Seiten. ISBN-13: 978-3-948392-04-8
- Stuttgart : Polar Verlag März 2020 [eBook]. Übersetzung: Boris Koch. 1,4 MB [ePUB]. ISBN-13: 978-3-948392-05-5
Mörderische Zufallsbegegnungen in eisiger Umgebung
In den kanadischen Wäldern liegt am Ragged Lake das Five Mile Camp. Hier wurde einst Holz geschlagen, bis die Firma ihre Pforten schloss. Seitdem gibt es nur noch wenige Menschen in der abgeschiedenen Region. Dazu gehörte bisher eine kleine Familie - Vater, Mutter, zweijährige Tochter -, die in einer selbst gezimmerten Hütte auf dem ehemaligen Firmengelände hausten und für sich blieben.
Eines Wintertages findet man das Trio brutal ermordet in ihrer Hütte. Der Fall geht an Detective Frank Yakabuski von der Springfield Regional Police. Mit zwei jüngeren Polizisten begibt er sich auf die stundenlange Fahrt mit dem Schneemobil, um den Tatort zu erreichen.
Der ermordete Vater entpuppt sich als Guillaume Roy, ehemaliger Elitesoldat, der in Bosnien schwer verletzt wurde und lange mit dem Alkohol kämpfte. Dass er wieder Fuß fasste, lag vor allem an der Beziehung zur jungen Lucy Whiteduck, mit der Roy eine Familie gründete. Lucy hatte eine gefährliche Vergangenheit. Sie war die Geliebte des Gangsters Sean Morrissey - und sie wurde Zeugin eines Verbrechens, das die Beteiligten in Schwierigkeiten bringen könnte. Sie wollen sämtliche Spuren verwischen - und Lucy wusste zu viel.
Der Dreifachmord sorgt für jene Aufmerksamkeit, die nicht nur den Tätern, sondern auch anderen vor Ort aktiven Kriminellen unwillkommen ist. Da Yakabuski für seine Hartnäckigkeit bekannt ist, wird vorsichtshalber ein Killer-Team geschickt, das den Ermittlungen Einhalt gebieten soll …
Klagelied eines alten Lesers
Je länger man Krimis liest, desto nüchterner bzw. erwartungsloser betrachtet man die aktuellen Neuerscheinungen. Dies mag altersbedingt sein, doch zumindest die Großverlage scheinen immer stärker auf Als-ob-Krimis zu setzen, wobei die deutschen Autoren ihre Werke verstärkt in der Zeit zwischen den Weltkriegen oder in den Jahren nach 1945 spielen lassen - Danke, Volker Kutscher u. a. Autoren, für einen Startschuss, der viel zu laut dort gehört wurde, wo ‚Spannung‘ mit ‚Zeitkolorit‘ verwechselt wird …
Immerhin sind diese historisierenden ‚Krimis‘ immer noch lesenswerter als jene Mischung aus Gute-Laune-Kuschelei und Liebesgeflüster, die den klassischen „Whodunit“ imitiert bzw. missbraucht, um einen sämigen Brei anzurühren, der dorthin schwappt, wo es ‚gemütlich‘ zugehen soll und sich ein Mord problemfrei in das Alltagsleben ohnehin ‚liebenswert‘ exzentrischer Zeitgenossen einfügt.
Der ‚echte‘, d. h. auf ein Verbrechen konzentrierte und in diesem Umfeld verharrende Kriminalroman scheint dagegen ein Nischendasein zu führen. Umso erfreulicher ist für ausgehungerte Echtkrimi-Fans die Entdeckung eines Werkes, das die klassischen Tugenden pflegt, d. h. einen spannenden Fall spannend und schwulstfrei erzählt. Allzu unscheinbar gestaltetet, aber gut ausgewählt (und übersetzt), sorgt der Debüt-Roman des kanadischen Autors Ron Corbett für selten gewordene Zufriedenheit.
Es ist in jeder Hinsicht kalt
Corbett gibt sich viel Mühe bei der Gestaltung einer Welt, der tranige Gemütlichkeit vorsätzlich ausgetrieben wird. Kanada ist ein weites, außerhalb der Städte schwach besiedeltes, stattdessen bewaldetes = ‚wildes‘ Land, was hier jedoch kein Fundament für naturmystische Schwurbeleien legt. Es ist kalt um den Ragged Lake - und das liegt nicht nur an der Jahreszeit! Obwohl Schnee die Landschaft bedeckt, ist „Preisgegeben“ ein „Noir“-Krimi. Corbett beschreibt eine Rand-Gesellschaft, die in den Trümmern einer verwüsteten Landschaft haust. Der einstige Reichtum stützte sich auf Ausbeutung und Verschmutzung. Heute herrschen Arbeits- und Hoffnungslosigkeit im einstigen Holzfällercamp, nur gescheiterte Existenzen und Kriminelle sind hängengeblieben.
Die Tragödie der Familie Roy, die einfach nur untertauchen wollte, liegt auch darin, dass heute selbst scheinbare Einöden wie das Five Mile Camp ‚globalisiert‘ sind. Die moderne Kommunikation funktioniert, und mit ein wenig Geduld kann man den Ort erreichen. Als Versteck taugt er nicht, sondern begünstigt zeugenfreien Massenmord. Somit fangen sich die Roys in einer selbstgestellten Falle.
Allerdings schläft das Gesetz keineswegs, und da es hier Frank Yakabuski vertritt, haben die Täter ein Problem. Genretypisch bekommen sie es mit einem fähigen, unbestechlichen und durchgreifwilligen (sowie vom Leben tüchtig gebeutelten) Gegner zu tun. „Preisgegeben“ erzählt auch aus dem komplizierten Leben eines Mannes, der einerseits tief in der Region verwurzelt ist, während er andererseits keine Angst hat, sich im Dienst der Gerechtigkeit die Finger schmutzig (oder blutig) zu machen.
Das Gesetz passt sich an
Die schon erwähnte Globalisierung hat längst auch das organisierte Verbrechen erreicht. Es bildet Strukturen und eine ‚parallele‘ Wirtschaft, wobei Regelverstöße allerdings mit Gewalt geahndet werden. Störungen sind ärgerlich, denn sie schmälern den Verdienst. Deshalb gilt es taktisch bzw. nüchtern zu denken, was Massenmord einschließt.
Doch zweckgebundene Gewalt ist eine Illusion; sie funktioniert als Instrument nicht, weil sie unberechenbar ist und unvorhergesehene Zwischenfälle unvermeidbar sind. Corbett reichert die daraus resultierenden Ereignisse mit den Aktivitäten eines Gesetzeshüters an, dem die kriminelle Gewissensfreiheit des Verbrechers zwar abgeht, was jedoch durch einen Ehrenkodex ersetzt wird, der ihn ebenso entschlossen und brachial handeln lässt wie seine Gegner.
Auf das archetypische Duell zwischen „Gut“ und „Böse“ läuft es hinaus. Corbett gibt beiden Seiten Gesichter. Yakabuski wird von eifrigen, aber unerfahrenen und deshalb gefährdeten Polizisten begleitet, während Sean Morrissey bizarre Killer wie Tommy Bangles ausschickt. Der finale Kampf findet statt, aber Corbett nimmt ihm „Noir“-typisch jeden Glanz.
Fazit:
Ausgezeichneter „Noir“-Roman, der kompromisslos und ohne Schielen nach einem „Happy-End“ eine ebenso spannende wie tragische Geschichte erzählt und mehrere Sub-Plots in einem ebenso düsteren wie konsequenten Finale zusammenführt: ein wunderbarer Krimi und ein echter Lektüregenuss!
Ron Corbett, Polar
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