Gangs of New York
- Heyne
- Erschienen: April 2003
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Originalausgabe erschienen unter dem Titel „The Gangs of New York“
- New York : Albert A. Knopf, Inc. 1927/28
- München : Heyne Verlag September 2001 (Allgemeine Reihe 01/13292). Übersetzung: Anja Schünemann. 448 Seiten. ISBN-10: 3-453-18682-6
- München: Heyne Verlag April 2003 (TB-Nr. 18582). Übersetzung: Anja Schünemann. 448 S. ISBN-13: 978-3-453-18582-1
Gangster-Schlachten auf offener Straße
„Die führenden Köpfe der Aufrührer kamen auf die Idee, dass sie mit Schusswaffen die Polizei außer Gefecht setzen könnten ... Aber die Polizei bekam Wind von den Plänen ... Die genaue Zahl der Opfer blieb unbekannt, aber als die Krawalle abgeflaut waren und mit den Aufräumarbeiten begonnen wurde, füllten die menschlichen Knochen, die die Arbeiter in dem Schutt fanden, mehr als 50 Körbe und Fässer.“
Was sich hier wie der Ausschnitt aus einem wüsten Horrorthriller liest, ist tatsächlich geschehen: im Juli des Jahres 1863; nicht auf einem der Schlachtfelder des Amerikanischen Bürgerkrieges (1861-1865), sondern fern der Front in den Straßen von New York. Dort tobte über mehrere Tage eine Orgie unvorstellbarer Gewalt und Zerstörung, die von der Armee nur mit Haubitzen niedergeschlagen werden konnte, mindestens 2000 Menschen das Leben und 8000 die Gesundheit kostete sowie mehr als einhundert Gebäude in Schutt und Asche legte.
Die Krawalle von 1863 sind ein fast vergessenes Kapitel der Weltgeschichte. Dabei bildeten sie nur den eigentlich logischen Höhepunkt einer Entwicklung, die man nur als ungeheuerliches Trauerspiel bezeichnen kann: Die braven Bürger von New York hatten den Mob, der ihnen an die Kehle ging, praktisch selbst und systematisch herangezüchtet! Über ein halbes Jahrhundert brüteten die Slums der Stadt mit ihren Lebensbedingungen, die jeglicher Beschreibung spotteten, ganze Generationen verrohter und brutalisierter Wilder aus, die schließlich ganze Viertel besetzten und sich ihre eigene Welt mit bizarren Regeln schuf, zusammengehalten durch mörderische Gewalt - und die Gangs von New York!
Die trüben Quellen des organisierten Verbrechens
Hört man heute das Wort „Gang“, beschwört es das Bild jener Gangster-Banden herauf, die im Chicago Al Capones ihr Unwesen trieben. Diese Verbrecher-‚Kultur‘ der 1920er und 30er Jahre entstand aber nicht aus sich heraus, sondern besaß eigene historische Wurzeln.
Die Erinnerung an diese Geschichte flackerte Anfang des 21. Jahrhunderts auf, als Filmemacher Martin Scorsese, der u. a. mit Goodfellas - Drei Jahrzehnte in der Mafia (1990) und Casino (1995) Blicke auf das organisierten US-Verbrechen des 20. Jahrhunderts geworfen hatte, in seinem Epos Gangs of New York (2002) weiter zurückging in jene Phase, als Gangs mit malerischen Namen wie „Dead Rabbits“, „Five Points“ oder „Hell Kitchen Gophers“ ihr gar nicht romantisches Schreckensregiment ausübten.
Gangs of New York, der Film, basiert auf dem gleichnamigen Sachbuch, das in den USA als Klassiker des „True Crime“-Genres gilt. Verfasst wurde es bereits 1928 vom zu seiner Zeit sehr populären, heute weitgehend vergessenen Journalisten Herbert Asbury (1889-1963).
Ein Bestseller von 1928
„Dieses Buch soll keine soziologische Abhandlung sein und ist nicht als Versuch zu verstehen, Lösungen für die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kriminologischen Probleme aufzuzeigen, die die Bandenkriminalität aufwirft“, schickt Asbury seinem Werk voraus; eine lobenswerte Einschränkung, auf die viele seiner Zeitgenossen lieber verzichteten, um sich mit Wonne zum Sprachrohr für Volkes Stimme zu machen und verlogen in düsteren Schauergeschichten über vertierte Verbrecher als direkte Sendboten der Hölle zu schwelgen.
Asbury kann sich von diesem Klischee nicht völlig trennen: „In der Regel ... war der Gangster ein stupider Raufbold, der in Schmutz und Elend geboren und inmitten von Laster und Korruption aufgewachsen war. Er folgte seiner natürlichen Bestimmung“, heißt es im Vorwort. Andererseits wollte Asbury hier vorsorglich dem kritischen Establishment seiner Zeit den Wind aus den Segeln nehmen. Anschließend verzichtete er darauf, dem Publikum die bittere Pille zu versüßen: „Der Urtyp des Gangsters ... war im Wesentlichen das Produkt seiner Umwelt: Armut, chaotische Familienverhältnisse und gesellschaftliche Unsicherheit brachten ihn hervor, und die politische Korruption mit all ihren üblen Begleiterscheinungen gab ihm Auftrieb.“
Das ist deutlich und klingt recht modern. Asbury versucht nicht, die Ursachen des Bandenunwesens in New York zu verschleiern. Seite um Seite füllt er mit Fakten und Namen und legt Zeugnis ab über die ungeheuerlichen Verbrechen von Politikern, Geschäftsleuten und Kirchenfürsten, die in enger Zusammenarbeit mit dem ‚Gesetz‘ und seinen Vertretern eine ganze Stadt als ihre persönliche Pfründe betrachteten, die zum Himmel schreiende Verelendung ganzer Stadtviertel ignorierten und jene, die sich nicht wehren konnten, mit einer Rücksichtslosigkeit ausbeuteten, die selbst den in punkto soziale Gerechtigkeit seit jeher nicht zimperlichen Amerikanern übel aufstieß: „Im Schlagstock eines Polizisten steckt mehr Recht als in einem Beschluss des Obersten Gerichts.“ (Alexander S. Williams, Kommandant des 29. Polizeireviers von New York)
Das Recht ist vor allem das Recht des Stärkeren
Die Zeiten waren andere, auch in Europa gab es so etwas wie verbindliche Regeln zum Schutze derjenigen, mit denen es das Schicksal weniger gut meinte, noch nicht, geschweige denn ein soziales Netz, das diesen Namen verdiente. Aber die Zeitgenossen wussten spätestens 1857, dass die übliche Korruption und Unterdrückung in New York jegliches Maß verloren hatten, als der Staat die gesamte Verwaltung vom Bürgermeister abwärts sowie die gesamte Polizeibehörde ihrer Posten enthob - und diese den Gehorsam verweigerten! Der Bürgermeister verbarrikadierte sich im Rathaus, und über Wochen lieferten sich die ‚alten‘ mit den ‚neuen‘ Polizisten vor den Augen der gleichermaßen fassungslosen Bürger und Verbrecher in den Straßen wilde Schlachten um die Vorherrschaft, bis schließlich wieder einmal die Armee einmarschieren musste. Es fragt sich also, wer die eigentlichen „Gangs von New York“ waren ...
Asburys Buch platzt geradezu vor Schilderungen absurder Geschehnisse, die den Leser mit offenem Mund zurücklassen. Der Autor beschränkt sich in seiner Skandalchronik mit einer für 1928 erstaunlich anmutenden Konsequenz auf die nüchterne Darstellung. Sofern man das in Unkenntnis der primären Quellen sagen kann, hat Asbury sauber recherchiert. Er nennt geradezu pedantisch Orts- und Personennamen und wartet mit präzisen Zeitangaben auf; kein Wunder, konnte er doch nicht nur auf eine Fülle seither vom sprichwörtlichen Zahn der Zeit vertilgter Akten, Berichte oder Briefe zurückgreifen, sondern selbst noch viele Zeitgenossen befragen.
An dieser Stelle ließe sich noch endlos schwelgen in den (Un-) Taten von Männern mit Namen wie „Eat Em Up“ Jack McManus, Louie the Lump oder Gyp the Blood, in Anekdoten wie der von der wahnwitzigen Entführung des Finanzmagnaten A. T. Stewart 1878 (zwei Jahre nach seinem Tod ...) oder in Reminiszenzen an halb verschüttete oder längst vergessene große - noch John Carpenter stützte sich 1987 in „Big Trouble in Little China“ auf die berüchtigten „Tong-Kriege“, die zwischen 1900 und 1912 New Yorks Chinatown verheerten - und kleine Geschichten. (Wer hätte gedacht, dass die ersten Polizisten New Yorks keine Uniform trugen, sondern nur einen Stern aus Kupfer - „Copper“ im Englischen; bis zum „Cop“ ist es dann nicht mehr weit.)
Pralles Panoptikum einer wilden Vergangenheit
Diesem gewiss veralteten, aber in jeder Beziehung unterhaltsamen Werk muss nur ein echter Vorwurf gemacht werden, der sich gegen Asburys absurde Behauptung richtet, die Tage des korrupten New Yorker Stadtregiments und des organisierten Verbrechens seien spätestens seit dem Ersten Weltkrieg Vergangenheit. Auch Asbury muss 1928 gewusst haben, dass Korruption und Kriminalität virulenter denn je waren und gerade erst zur Höchstform aufliefen.
Die deutsche Ausgabe von Die Gangs von New York ist mit vielen zeitgenössischen Stichen und Fotos illustriert und erfreulich gut übersetzt Das Werk lohnt die Lektüre; man liest es noch mit Freude, während der gleichnamige Film schon fast vergessen ist.
Fazit
Zwar faktisch veraltet, aber weiterhin informativ, gut geschrieben und prall mit unglaublichen Anekdoten gefüllt, lässt dieses Buch eine verdrängtes, aber elementares Kapitel der US-Geschichte aufleben: ein schaurig-schöner Lesegenuss!
Hebert Asbury, Heyne
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