Todeshauch
- Weltbild
- Erschienen: Januar 2004
- 74
- Reykjavík: Vaka-Helgafell, 2001, Titel: 'Grafarþögn', Originalsprache
- Augsburg: Weltbild, 2004, Seiten: 364
- Bergisch Gladbach: Bastei Lübbe, 2005, Seiten: 364
- München: Süddeutsche Zeitung, 2006, Seiten: 266
- Köln: Lübbe Audio, 2011, Seiten: 4, Übersetzt: Frank Glaubrecht, Bemerkung: gekürzt
Szenen einer Ehe
Manchmal schreitet man durch die Krimiabteilungen der Buchhandlungen und kann den Eindruck gewinnen, dass man nur einen skandinavischen Namen braucht, um in Deutschland erfolgreich Krimis zu verkaufen. Seit dem Erfolg eines Henning Mankell kann inzwischen fast jeder halbwegs erfolgreiche Autor aus Europas hohem Norden in Deutschland vermarktet werden. Sogar Autoren aus einem Land wie Island, wo selbst Bestseller nur selten Auflagen im fünfstelligen Bereich erreichen, werden inzwischen hier verlegt.
Aber ein Arnaldur Indridason darf einen ganz besonderen Eintrag auf seiner Visitenkarte vorweisen. Er ist der erste Autor, dem es gelungen ist, den Skandinavischen Krimi-Preis zwei mal infolge zu gewinnen. Der erste Sieg in diesem Wettbewerb gelang ihm 2002 mit "Nordermoor", mit "Todeshauch" knüpfte er 2003 daran nahtlos an. Niemandem ist das vorher gelungen, wenige nur sind überhaupt zwei mal ausgezeichnet worden. Sogar der in Deutschland immer wieder über den Klee gelobte Mankell hat die Keule nur einmal im Regal stehen. Nach dem wirklich großartigen "Nordermoor" lagen die Erwartungen an "Todeshauch" somit natürlich auf hohem Niveau.
Ein ganz klein wenig Hintergrundwissen
Um die Island-Krimis anzugehen, braucht man ein ganz klein wenig Hintergrundwissen. Ganz Island hat nur 280.000 Einwohner, wovon zwei Drittel in der Hauptstadt Reykjavik leben. Die Stadt ist in den letzten Jahrzehnten schnell gewachsen und in der Peripherie wird mehr und mehr Bauland erschlossen. Und in Island gibt es im Schnitt jährlich vier Morde. Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer ein wenig höher, aber dennoch ist offensichtlich, dass ein Mordermittler hier viel Zeit haben dürfte.
Am Rande einer Baugrube wird ein menschliches Skelett entdeckt. Ein Armknochen ragt aus dem an der Seite aufragenden Erdreich. Da der einzige isländische Gerichtsmediziner im Urlaub außer Landes ist, bittet Kommissar Erlendur einen Archäologen um Hilfe. Dieser kann schnell einschätzen, dass die Knochen seit knapp 60 Jahren unter der Erde liegen und übernimmt die Ausgrabung. Um alle Spuren zu sichern, will er von oben die Grasnabe abtragen und sich langsam bis zum Skelett vorarbeiten. Das kann Tage dauern und garantiert dem Professor die erhoffte Aufmerksamkeit der Medien.
Ein Vermisster aus dem Zweiten Weltkrieg?
Währenddessen möchte Erlendur wissen, wer der oder die Tote sein kann. Stand hier einst ein Sommerhaus reicher Städter? Falls ja, wem gehörte es und wer wohnte hier, da in der Zeit des städtischen Wachstums akute Wohnungsnot herrschte und viele Menschen mit ihrem Wohnsitz nicht gemeldet waren. Oder könnte die britische und amerikanische Armee, deren Truppen auf der Rückseite des Berges während des Zweiten Weltkriegs stationiert waren, eventuell einen Kameraden zu jener Zeit plötzlich vermisst haben?
Als gerade die Ermittlungen beginnen, erhält Erlendur einen Hilferuf von seiner Tochter Eva Lind. Sie hatte gerade den Kontakt zu ihrem Vater wieder abgebrochen, weil er ihr zu viele Vorwürfe machte, da sie während ihrer Schwangerschaft weiterhin Drogen konsumierte. Er findet seine Tochter bewusstlos nahe eines Krankenhauses, das Kind ist tot zur Welt gekommen und die Mutter hat viel Blut verloren. Eva Lind kämpft mit dem Leben und wird von den Ärzten in ein künstliches Koma versetzt.
Kommissar Erlendur: wurzellos, geschieden und zwanzig Jahre ohne Kontakt zu Frau und Kindern
Die schwierige private Situation Erlendurs schildert Indridason bereits in "Nordermoor" in aller Breite. Wurzellos, geschieden und fast zwanzig Jahre ohne Kontakt zu Exfrau und Kindern. In "Todeshauch" werden dem Leser die Hintergründe verraten, als Erlendur am Bett seiner mit dem Tod ringenden Tochter sitzt. Die melodramatische Nebenhandlung verleiht dem Roman große tragische Würze. Aber nicht nur über den polarisierenden Erlendur, gegen den die Probleme eines Kommissars Wallander nicht mehr als ein Pickel im Gesicht eines Teenagers sind, auch über den Assistenten Sigurdur Oli spricht der Autor die Emotionen der Leser an. Wirklich meisterhaft flechtet er kapitelweise eine Rückblende ein, in der er Szenen eines aus der Bahn geratenen Familienlebens schildert: Ein Vater, der seine Frau schlägt und misshandelt und ihr vor den drei Kindern offen droht, die behinderte Tochter umzubringen.
Wie kein anderer versteht es Indridason, mit den Gefühlen seiner Leser zu spielen. Wohldosiert treibt er die Handlung in einem begeisternden Tempo voran, wodurch man das Buch nur ungern aus den Händen legen mag. Als sozialkritische Komponente baut er eheliche Gewalt und das Scheitern menschlichen Zusammenlebens, aber auch die Probleme von Urbanisierung und Landflucht im kargen Island ein. Er versteht es, mit überraschenden Wendungen zu arbeiten und die Spannung damit anzuheizen. Worüber das alles jedoch nicht hinwegtäuschen kann, ist der zu sehr konstruierte Kriminalfall. Wohl keine andere Mordkommission hätte die Zeit, einen sechzig Jahre zurückliegenden Kriminalfall zu untersuchen. Die Arbeit der Archäologen an der Grabungsstelle und damit die Feststellung der Identität des Opfers verzögert die Freilegung der Skeletts genau bis zu einem Moment, zu dem der Roman die höchstmögliche Dramatik erhält. Und die zurückhaltende Schilderung einer Zeitzeugin verschweigt ebenfalls bis zum Ende, wer eigentlich damals umgekommen ist und verscharrt wurde. Hier sind also gegenüber dem Vorgänger leichte Abstriche zu machen.
Keine Spannungsliteratur, aber hervorragende und fesselnde Unterhaltung
"Todeshauch" ist keine Spannungsliteratur, kann aber hervorragend unterhalten und vermag zu fesseln. Für ein mögliches Ende bietet der Roman zahlreiche Alternativen und wenn man glaubt, endlich durchschaut zu haben, welches Verbrechen eigentlich damals abgelaufen ist, dann könnte plötzlich doch wieder alles ganz anders sein. Indridason ist virtuos, weil er es versteht, mit den Lesern zu spielen. Seine Romane sind mehr als Krimis, sie können süchtig machen. Bleibt zu hoffen, dass wir mehr diesem Autor von der kleinen Insel im Nordatlantik und seinem schwermütigen Kommissar zu lesen bekommen.
Arnaldur Indriðason, Weltbild
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