Vorhang auf für den Mörder
- Alfred Scherz
- Erschienen: Januar 1969
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Originalausgabe erschienen unter dem Titel „Panic in Box C“
- New York : Harper & Row 1966. 273 S.
- London : Hamish Hamilton 1966. 279 S.
- Bern - München - Wien : Alfred Scherz Verlag 1969. Übersetzt von Astrid Alexa Stange. [keine ISBN]. 170 S.
Theaterspiel mit tödlich doppeltem Boden
Beinahe vier Jahrzehnte stand das Theater „Die Maske“ in Richbell, US-Staat New York, leer, nachdem dort bei der ersten und einzigen Aufführung Eigentümer und Hauptdarsteller Adam Cayley auf offener Bühne einem Herzanfall erlegen war. Margery Vane, seine mehr als fünfzig Jahre jüngere Gattin, wurde später eine berühmte Schauspielerin und zog sich auf der Höhe ihres Ruhmes zurück, um einen englischen Lord zu ehelichen. Inzwischen abermals verwitwet, zieht es Lady Margery Severn in die „Maske“ zurück. Sie finanziert ein eigenes Ensemble, das in dem neueröffneten Haus „Romeo & Julia“ spielen soll - jenes Stück, das 1928 so unvermittelt ein tragisches Ende fand.
Margery Vane ist eigenwillig und äußert viele Sonderwünsche. Auch privat ist sie schwierig. Einen Todfeind hat sie sich schon gemacht: Während der Atlantik-Überfahrt wurde auf Margery geschossen. Die Kugel war knapp fehlgegangen, eine Untersuchung hatte keine Ergebnisse gebracht, obwohl ein berühmter Privatdetektiv Tischgast und Zeuge gewesen war: Dr. Gideon Fell reist in die USA, um dort Vorträge über Kriminalistik zu halten. Lady Margery bittet ihn, die Generalprobe in Richbell zu besuchen und ein Auge auf sie und eventuelle Attentäter zu halten.
Lady Margery wohnt der Generalprobe aufmerksam und allein in Loge C bei, die sie von innen verriegelt hat. Dennoch trifft sie dort während des dritten Aktes ein von der Bühne meuchlings abgefeuerter Armbrustbolzen. Da überall im Theater kostümierte Schauspieler und Bühnenarbeiter unterwegs waren, ist die Zahl der Verdächtigen groß, was die Geduld des ohnehin cholerischen Leutnants Spinelli auf eine harte Probe stellt. Nur Gideon Fell behält jene Ruhe und Übersicht, die nötig ist, um ein komplexes Mordkomplott aufzudecken und weitere ‚Unfälle‘ zu verhindern …
Bretter, die den Tod bedeuten
Eine Liste von Kriminalromanen, die im Theater spielen, würde eine beachtliche Länge erreichen. Das erstaunt nicht, ist die Bühne doch der ideale Schauplatz für Verbrechen: Darauf und dahinter wirken Menschen, die quasi von Berufswegen exaltiert sein müssen und aus ihren Herzen keine Mördergruben machen. Da Schauspieler dem Publikum unstet durch die Lande hinterher ziehen, gelten sie ohnehin als sittenlockeres Völkchen mit eingeschränkter Selbstdisziplin.
Das Theater selbst ist ein Symbol für den (schönen) Schein, der mit großer Emphase spielerisch dargestellt wird. Auf einer weiteren Ebene bietet es mit seinen Zwischendecken, Schnurböden, Kulissen- und Kostümlagern und einer generell verwinkelten, das dramaturgisch unterstützende Zwielicht vorziehenden Architektur eine isolierte kleine Welt und eine großartige Stätte für Verbrechen aller Art. Für den Krimi-Autoren wird es noch besser: Die Schauspieler sind kostümiert und geschminkt, und durch breite Türen strömen Besucher = potenzielle Verdächtige ein und aus.
„Die Maske“ - schon der Name ist Programm - wird unter der Feder des Krimi-Altmeisters John Dickson Carr zum archetypischen Tatort. Wie es sich im „Whodunit“ gehört, werden uns die Örtlichkeiten genau beschrieben; wir könnten einen Plan des Gebäudes zeichnen. Weil der Verfasser sorgfältig arbeitet, stimmen wir anschließend mit dem Urteil der entmutigten Polizeibeamten und privat ermittelnden Zeugen überein: Der Mord an Margery Vane alias Lady Margery Severn kann eigentlich gar nicht geschehen sein!
Die Kunst der unterhaltsam verschleierten Wahrheit
Zwar gibt es zahlreiche Verdächtige, und manches Alibi ist mehr als windschief. Auch an Indizien herrscht kein Mangel. Die Fakten wollen sich nur einfach nicht zu einem Gesamtbild fügen. Das ist kein Wunder, denn sollte dem Leser dies gelingen, bevor der Verfasser bzw. Dr. Fell die Katze aus dem Sack lässt, hätte Vorhang auf für den Mörder als Rätsel-Krimi versagt.
Zwar hatte John Dickson Carr Mitte der 1960er Jahre den Zenit seiner Krimi-Kunst überschritten. Dem nüchternen Leser enthüllt sich in der Tat manche logische Schwäche, und das dramatische Finale in einem Vergnügungspark mit Spiegelkabinett hat Carr aus einem eigenen Roman (The Skeleton in the Clock, 1948; dt. Das Skelett) übernommen. Dennoch ist „Vorhang auf für den Mörder“ ein lesenswerter Krimi, weil Carr gar nicht verbirgt, dass er seiner Geschichte eine Nische außerhalb der allzu modern gewordenen Gegenwart gesucht hat.
Die Handlung hat eine Vorgeschichte, die bereits 1928 und damit in der großen Ära des „Whodunit“ ihren Anfang nimmt. In der „Maske“ ist die Zeit ohnehin & buchstäblich stehengeblieben, denn nach der Premierenvorstellung wurden die Türen abgeschlossen. Als Gespenst der Vergangenheit geistert seither der alte Säufer Willie durch das leer stehende Gebäude; sein Schicksal ist das dramatisch übersteigerte Spiegelbild einer Tragödie, die 1965 ihren Höhepunkt findet.
Die Show muss immer weitergehen
Die Mechanik des „unmöglichen Mordes“, der dank einfallsreicher Planung möglich und vom Ermittler plausibel aufgelöst wird, hat Carr auch im 22. Roman seiner erfolgreichen Gideon-Fell-Serie nicht verlernt. Wenn man ihm etwas vorwerfen kann, so ist es die absolute Unmöglichkeit, als Leser mit dem Detektiv schritthalten zu können. Carr vernebelt nicht nur den tatsächlichen Tathergang. Er verschweigt uns Hinweise und legt uns notfalls ‚Informationen‘ vor, die nachträglich als Lügen offenbart werden. Auf das „fair play“ des Rätsel-Krimis kann sich der Leser nicht mehr verlassen.
Gideon Fell gefiel sich schon immer als Meister der unsinnigen Andeutung, die neugierige Frager sicherer fernhielt als vielsagendes Schweigen. Er gehört zu den großen, aber unsympathischen Detektiven der Kriminalliteratur, gibt sich jovial, ist aber eitel und geizt mit Informationen. Selbstverständlich hat Fell das Rätsel lange vor dem Finale gelöst, sagt aber kein Wort, sondern scheint es zu genießen, wie Polizisten, Zeugen und Verdächtige wild durcheinanderlaufen und immer hysterischer werden.
Fell ist nicht wirklich die Hauptfigur. Schlau, aber alt und unbeweglich wirkt er lieber im Hintergrund. Die Laufarbeit übernimmt dieses Mal der Historiker Philip Knox. Er wird Fells Watson und tappt in dieser Funktion stellvertretend für uns Leser in die deduktiven Sackgassen, die Carr scheinheilig öffnet. Außerdem wird Knox zum Fixpunkt einer jener unseligen Liebesgeschichten, die der Verfasser meinte seinen Kriminalromanen aufpfropfen zu müssen. In dieser Hinsicht legte Carr nie besondere Fertigkeiten an den Tag. Was 1935 nostalgisch wirken mochte, ist 1965 nur noch albern. Ist man als Leser bereit, diese Abstriche zu machen, entfaltet Vorhang auf für den Mörder noch einmal den angenehm staubigen Zauber des „Whodunit“, der eine Bluttat als unterhaltsames Rätsel präsentiert und dabei nicht einmal die Gutmenschen der Vergangenheit und Gegenwart auf den Plan ruft …
Fazit
Der 22. Band der Fell-Serie ist ein solider, altmodischer Rätsel-Krimi, der in seiner geschickt gewählten Theater-Nische gut aufgehoben ist und angenehme Krimi-Nostalgie verströmt: ein Lichtstrahl im nicht immer gelungenen Carr-Spätwerk.
John Dickson Carr, Alfred Scherz
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