Vitriol und Belladonna

  • Alfred Scherz
  • Erschienen: Januar 1963
  • 0

Originalausgabe erschienen unter dem Titel „And So to Murder“

 

- New York : William Morrow 1940. 280 S.

- London : Heinemann 1941. 251 S.

- Zürich : Albert Müller Verlag 1941. Übersetzt von Rudolf Hochglend. [keine ISBN]. 219 S.

- Bern - Stuttgart : Alfred Scherz Verlag 1963. Übersetzt von Margret Haas. [keine ISBN]. 189 S.

Vitriol und Belladonna
Vitriol und Belladonna
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Michael Drewniok
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonMär 2021

Säure, Gift & Krieg erschweren Film & Liebe

Schriftstellerin Monica Stanton hat mit „Sehnsucht“, einem schmalzig-verruchten Liebesroman, einen Bestseller gelandet. Produzent Thomas Hackett will das Buch nicht nur verfilmen, sondern wirbt Monica außerdem als Drehbuchautorin an. Sie landet in der Grafschaft Buckinghamshire und dort in den Pineham-Ateliers, wo sie der ebenfalls angeheuerte Krimi-Schriftsteller Bill Cartwright unter seine Fittiche nehmen soll. Dabei gerät Monica in die Dreharbeiten zum Thriller „Spione auf See“ und trifft ihre Lieblings-Schauspielerin Frances Fleur. Auch Regisseur Howard Fisk und seinen Assistenten Kurt von Gagern lernt sie kennen; dieses Team wird später „Sehnsucht“ in einen Film verwandeln.

Man ist im Atelier allerdings abgelenkt, denn aus der Werkstatt ist mehr als ein Liter hochgiftiger Schwefelsäure verschwunden. Die Hälfte taucht später in einer Wasserkaraffe auf dem Set von „Spione auf See“ auf, wo eine Katastrophe gerade noch verhindert werden kann. Wenig später lockt ein Unbekannter Monica in eine andere Kulisse und wartet dort mit dem Rest der Säure auf sie; der Anschlag missglückt nur knapp.

Niemand kann erklären, wieso gerade Monica von einem Attentäter verfolgt wird. Bill Cartwright wendet sich ratsuchend an Chefinspektor Masters, der wiederum seinen Freund, Sir Henry Merrivale vom Militärischen Geheimdienst, informiert. Doch wir schreiben das Jahr 1939, im September bricht der II. Weltkrieg aus. Nun gibt es Wichtigeres als seltsame Umtriebe in einem Filmstudio, obwohl in Pineham der Betrieb weiterläuft. Dann verschwinden Filmaufnahmen von einem Marinestützpunkt, die „Spione auf See“ mehr Glaubwürdigkeit verschaffen sollten und nun dem nazideutschen Feind sehr hilfreich wären. Sir Henry kehrt zurück - und über Pineham bricht buchstäblich die Realität herein …

Schwierige Zeiten für trickreiche Strolche

Der Ausbruch des II. Weltkriegs im September 1939 sorgte für eine Weile bedeutender Zäsuren. Nicht nur politisch und gesellschaftlich, sondern auch kulturell und künstlerisch galt es, turbulente Zeitläufe zu bewältigen, zu verarbeiten und nicht selten einfach zu überleben.

Mit einer gewissen Zeitverzögerung begann die Unterhaltungsindustrie auf die kriegsbedingten Veränderungen zu reagieren. In den Filmstudios entstanden nun Propagandafilme, in denen „der Feind“ möglichst lumpig, aber dank entschlossener Gegenwehr niemals siegreich dargestellt wurde. Spione auf See, jener Streifen, der im hier besprochenen Kriminalroman in den Pineham-Ateliers entsteht, ist so ein Film, der Spannung mit einer Botschaft verbindet.

In den großen und unübersichtlichen Hallen scheinen darüber hinaus leibhaftige Spione ihr Unwesen zu treiben, obwohl es selbst John Dickson Carr nicht leicht fällt zu begründen, was diese ausgerechnet in einem Filmstudio verloren haben: Gibt es in einem Krieg nicht wichtigere Ziele für Mord & Sabotage? Doch Carr stand vor dem Problem, einer von der Realität allzu gründlich aufgeschreckten Leserschaft einen typischen „Whodunit“ schmackhaft zu machen. Diese klammern die Wirklichkeit normalerweise mehr oder weniger aus, was es möglich macht, die Handlung auf die Auflösung kunstvoll konstruierter Mord- und Übeltaten zu konzentrieren.

Mit leichten Tricks auf altem Kurs

Offensichtlich wurde John Dickson Carr, der seit den 1930er Jahren in England lebte, wie so viele seiner Landsleute vom Kriegsausbruch überrascht. Vitriol und Belladonna klammert ihn nicht aus, für die Handlung ist er jedoch nicht nötig. Insgesamt beschränkt sich Carr auf entsprechende Andeutungen, bezieht einmal geschickt die notwendig gewordenen Verdunklungsvorhänge ins Geschehen ein, erwähnt nebenbei über London schwebende „Blimps“, oder lässt ein Regisseur klagen, weil die Armee für einen Historienfilm als Statisten abgestellte Soldaten an die Front kommandiert.

Krieg hin, Krieg her: Der Verfasser bleibt klassisch. Die Wahrheit hinter den rätselhaften, weil motivlosen Anschlägen auf eine junge Autorin weicht von Verdachtsmomenten, die auf Nazi-Spionage hindeuten, denkbar weit ab. „Whodunit“-typisch werden die Leser in die Ermittlungen eingeschlossen, wobei es ihnen überlassen bleibt, die sorgsam ‚getarnten‘ Hinweise als solche zu erkennen und zu deuten.

Sie sind da, wie man angenehm überrascht und wie üblich beschämt feststellt, nachdem sie einem von einem selbstverständlich täuschungsresistenten Sir Henry Merrivale mit Aplomb um die Ohren geschlagen wurden. Über die logische Relevanz der Auflösung sollte man sich lieber keine Gedanken machen. Sie funktioniert und überrascht, und sie muss vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen Gesellschaftsordnung bewertet werden, die heute auf Unverständnis stößt.

Frauen und „Mädchen“

Carr führt dies aus, als er zu Beginn Monica Stantons unfreiwilligen Aufstieg zur ‚Skandal-Autorin‘ beschreibt: Nüchtern betrachtet hat sie nur einen schwülstigen Liebesroman in historischen Kulissen verfasst. Da sie erst 22 Jahre alt und die Tochter eines Pfarrers ist, weckt dies die Neugier der Presse, die zur Steigerung der Auflagen gern den ohnehin schwelenden Verdacht schürt, die junge Frau habe ‚ausprobiert‘, was sie später in Worte fasste.

Monica Stanton mag volljährig sein, doch selbstständig ist sie nicht. Regelmäßig durchsucht die neugierige Tante Flossie ihre Habseligkeiten, um dem „Kind“ im Bedarfsfall die nötige Kontrolle zukommen zu lassen. Als Monica in Pineham angestellt wird, geht diese Funktion übergangslos auf den stattlichen Bill Cartwright über. Er ist einige Jahre älter und „erfahren“ - und er verliebt sich prompt in die unbedarfte Maid. Sie sträubt sich zunächst, wie es im Rahmen der zeitgenössischen Werbung vorgeschrieben ist, fügt sich jedoch bald ihren weiblichen Gefühlen und verlangt zukünftig nach der Anwesenheit des „Beschützers“. (Die in Anführungsstriche gesetzten Worte kommen so im Romantext vor.)

Der Gegenentwurf zur fraulichen Monica ist das Karriereweib Tilly Parsons, das mit dem Erfolg jede Weiblichkeit verlor und faltig, kettenrauchend & fluchend versucht, es den Jungs gleichzutun, obwohl sie insgeheim voller Wehmut an die Jahre zurückdenkt, als sie selbst noch ganz Frau war. Deshalb betätigt sie sich voller Wonne als Kupplerin und macht dabei vor allem deutlich, dass und wie Carr den „Whodunit“ einer Aktualisierung unterziehen möchte: Vitriol und Belladonna ist kein reiner, auf das Krimi-Rätsel zentrierter Rätsel-Krimi mehr, sondern will auch eine Liebesgeschichte erzählen. Wie sein Kollege Ellery Queen hatte Carr begriffen, dass er seine Leserschaft (und damit seine Einkünfte) vergrößern konnte, wenn er dem weiblichen Publikum Zugeständnisse machte.

Die Ebenen des Vergnügens

Carr kann nichts dafür, dass genau diese Szenen heute irritieren, langweilen oder ärgern. Die beschriebenen Manierismen entsprachen dem Zeitgeist. Womöglich lagen dem Verfasser solche Einlagen auch nicht. Deutlich besser glückte Carr jedenfalls ein weiteres Experiment: Vitriol und Belladonna zeigt einen Verfasser mit Humor, der sogar den „running gag“ meistert: Immer wieder hören unsere Heldinnen und Helden zufällig Fetzen der Gespräche eines Regisseurs, der sich mit einem Drehbuchautoren über Napoleons letzte Kaiserjahre streitet. Immer dreister und drastischer vergewaltigt dieser Regisseur - der für das Geschehen keinerlei Bedeutung hat - die historische Wahrheit, bis aus einem „Kunstfilm“ ein absurdes Abenteuer-Märchen und damit wohl ein Blockbuster geworden ist.

Die ohnehin als überdreht geltende Welt des Films verschafft Carr einen idealen Hintergrund. Natürlich sind die „Pineham-Ateliers“ realiter die erst 1935 entstandenen Pinewood-Studios westlich von London. Bis heute werden hier bekannte Filme und Filmszenen (u. a. für die James-Bond-Serie) gedreht. Carr muss sich dort umgeschaut haben, denn er schildert den Studio-Alltag und den Trubel in den Ateliers nicht nur interessant, sondern auch kundig. In diesem Umfeld ist der Irrsinn wie gesagt Alltag. Ein Mörder, der versucht, Schwefelsäure durch ein viktorianisches Sprachrohr in den Mund seines Opfers zu gießen, dürfte sich hier wie zu Hause fühlen …

Der exzentrische Henry Merrivale gibt offen zu, dass sogar ihn kindliche Neugier in das Studio treibt. Ansonsten ist er tagesaktuell wieder im Einsatz, während er in neun früheren Romanen als Agentenschreck der Militärischen Abwehr eine ruhige Kugel schob und schon deshalb gern als Detektiv aktiv wird. Sein ortsangemessen theatralischer Finalauftritt krönt diesen Roman, der wie fast alle Krimis, die John Dickson Carr in den 1930er und 1940er Jahren schrieb, zu den lesenswerten Klassikern des Genres gehört.

Fazit

Rätsel-Krimi vor ungewöhnlicher (und unterhaltsam übertriebener) Kulisse; genretypisch werden in einem großen Finale die bisher widersprüchlichen Indizien sortiert: „Whodunit“ aus großer Zeit und virtuoser Feder.

Vitriol und Belladonna

John Dickson Carr, Alfred Scherz

Vitriol und Belladonna

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