Die Geheimnisse der Gaslight Lane
- Atlantik
- Erschienen: November 2019
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Originalausgabe erschienen unter dem Titel The Secrets of Gaslight Lane
- London : Head of Zeus 2016
- Hamburg : Atlantik/Hoffmann und Campe Verlag 2019. Übersetzung: Alexander Weber. 605 Seiten, HC
- Bd. 4 [Die Detektive der Gower Street]
Im Haus der durchschnittenen Kehlen
Gethsemane, das riesige Stadthaus in Londons Gaslight Lane, war schon vor diesem November 1883 ein verrufener Ort. Elf Jahre zuvor hatte jemand dort Holford Gastang, seine Gattin, seinen Patensohn und drei Bedienstete grausam abgeschlachtet. Der Fall konnte nie gelöst werden; die einzige Verdächtige - ein Hausmädchen - verfiel dem Wahnsinn und vegetiert seitdem in einer Irrenanstalt vor sich hin.
Die Gastangs hatten keine Kinder, Gethsemane fiel an einen Neffen. Nathan Matlock und seine Familie wurden nie glücklich in dem großen Haus, zumal nicht wenige Mitbürger ihn als Täter = Erbschleicher verdächtigten. Die feine Gesellschaft schnitt die Matlocks, die nun von einer neuen Tragödie heimgesucht werden: Auch Nathan wird ermordet - erdrosselt, während man ihm gleichzeitig die Kehle aufschnitt.
Wieder ist die Polizei ratlos, denn Gethsemane gleicht einer Festung. Sämtliche Türen, Fenster und Lieferluken sind gesichert. Der tote Nathan wurde in seinem von innen verriegelten Zimmer gefunden. Der ohnehin unter Erfolgsdruck stehende Inspektor Quigley ist keineswegs entzückt, als sich Privatermittler Sidney Grice in den Fall einschaltet; er wurde von Charitable Matlock - Nathans Tochter - mit der Suche nach dem Mörder beauftragt.
Wie üblich wird der grantige Grice von seinem Mündel March Middleton begleitet, die sich längst als seine Assistentin etabliert und bewährt hat. Zwischen den Verbrechen von 1872 und 1883 gibt es einen Zusammenhang, der möglichst rasch aufgedeckt werden sollte - denn es kommt nicht nur zu einem weiteren schaurigen Leichenfund: Das Hausmädchen ist ausgebrochen und sucht die Matlocks heim …
Alte Schuld, gut konserviert in Lüge & gebranntem Kalk
Mit einer ganzen Serie von Knalleffekten brachte M. R. Kasasian Band 3 seiner Serie um die „Gower-Street“-Detektive Sidney Grice und March Middleton auf Touren und in ein Finale, das so spektakulär geriet, dass man sich fragte, wie sich dies noch toppen ließ. Die Antwort ist ebenso simpel wie traurig: Autor Kasasian weiß es auch nicht und schaltet in Die Geheimnisse der Gaslight Lane deutlich erkennbar einen Gang runter. Middleton ist wieder bei Verstand, und was sie über ihre Familie erfuhr, spielt keine besondere Rolle. Stattdessen werden die beiden Hauptfiguren einfach in einen neuen Fall verwickelt, der ihnen - so die ‚Erklärung‘ - für eine reflexive Rückschau keine Zeit lässt.
Gethsemane in der Gaslight Lane ist der (allzu) ideale Schauplatz für eines jener leicht fantastischen, d. h. schauerlich übertriebenen Verbrechen, die Buch, Film und Fernsehen gern in die viktorianische Ära und nach London verlegen. Die Metropole galt in dieser Ära als moderne Millionenstadt, die jedoch vor allem sozial der Entwicklung hinterherhinkte. Faktisch klammerte sich die Gesellschaft an ein seit Jahrhunderten existentes Kastensystem, das im Zeitalter der Industriellen Revolution der Realität nicht mehr gewachsen war. Eine zahlenstarke „Unterschicht“ verharrte in Elend und Rechtlosigkeit, was die herrschende Oberschicht tunlichst ignorierte und notwendige Reformen abschmetterte.
Rechtwidriges Verhalten galt nur als Skandal, wenn der Verursacher erwischt wurde. Geschah dies nicht, schaute ‚die Gesellschaft‘ entschlossen in die Gegenrichtung. In spannender Übersteigerung ist Gethsemane trotz des frommen Namens nicht nur ein Hort scheinheiliger Unmoral, sondern eine Brutstätte für lustvoll ausgelebten Mord, der einen neuen Höhepunkt erfährt, als zwar übliche, aber überbeanspruchte Reflexe versagen und eine Rache heraufbeschwören, die es in ihrer Brutalität mit der ursprünglichen Untat aufnimmt.
Ruf steht über Leben
Ist der Ruf ruiniert, endet das (gesellschaftliche) Leben - unbarmherzig und endgültig. So ist es kein Wunder, dass sich Betroffene mit allen Mitteln gegen dieses Schicksal stemmen, wobei die Frage nach der Gesetzmäßigkeit Nebensache bleibt. Zwar gibt es auch heute Skandale, doch selten treffen sie mit einer ähnlichen Wucht wie in der Ära der Queen Victoria. Diese Unerbittlichkeit sowie die daraus resultierenden Folgen - die "Geheimnisse der Gaslight Lane" - geben dieser Geschichte ihr Gerüst und ihr Verlaufsbett.
Dies ist faktisch relativ geradlinig, weshalb Kasasian die üblichen Haken schlägt, um sein Publikum unterhaltsam zu verwirren und bei der Lektüre-Stange zu halten. Allerdings ist das Konzept ein wenig stumpf geworden, weshalb die Handlung im endlosen Mittelteil mehrfach abgleitet. Band 4 der „Gower-Street-Detektive“ leidet zudem unter einem modernen Fluch: Je länger eine Serie läuft, desto seitenstärker werden die Beiträge. Es sind keine 600 Seiten nötig, um Die Geheimnisse der Gaslight Lane zufriedenstellend aufzulösen. Es sollte voran gehen, aber stattdessen geht der Autor in die Breite, verliert sich in interessanten, aber für das Geschehen irrelevanten Szenen oder sägt Nerven, indem er das resolute, jedoch geistig ‚ulkig‘ minderbemittelte Dienstmädchen Molly für platten Klamauk missbraucht, der den Leser-Geduldsfaden irgendwann reißen lässt.
Anders ausgedrückt: Kasasian hat einerseits keine echte Ahnung, wie er an Band 3 anknüpfen soll, während andererseits ein Vertrag zu erfüllen = Band 4 zu verfassen war. Wie so oft ist das Ergebnis handwerkliche Routine, die der Unzufriedenheit der Leser halbwegs Einhalt gebietet. Natürlich liefern Grice und Middleton und die vielen weiteren Protagonisten, was erwartet wird: Exzentrische Genialität und (sacht) feministische Präsenz, zu der sich eine breite Palette zeitgenössisch drastischer Vorurteile gesellen - Polizisten sind dumm, prügeln Geständnisse aus Verdächtigen heraus oder lassen sich schmieren; ‚ehrbare‘ Bürger sind scheinheilig, verlogen und niederträchtig; Bedienstete werden ausgenutzt, sind aber in der Regel ohnehin nicht helle. Betrug, Gemeinheit und lungenzerfressender Nebel kommen hinzu und komplettieren das hässliche, aber nostalgisch zufriedenstellende Ambiente.
Das etwas zu ausgiebig verschleppte Rätsel
Eine ‚realistische‘ Darstellung zeitgenössischer Verbrecherjagd muss und soll Die Geheimnisse … nicht bzw. keineswegs bieten; nichtsdestotrotz sollte das Geschehen auch in seiner Übertreibung plausibel bleiben. Daran hapert es, was Kasasian u. a. mit Grice-Mätzchen übertünchen will. Dieses Mal übertreibt er, weshalb der Detektiv nicht exzentrisch, sondern albern wirkt, wenn er absurde ‚Schlussfolgerungen‘ in ebensolche Worte fasst und sich allzu lange in Schweigen hüllt, um erst in einem sehr ausführlichen Finale Farbe zu bekennen.
Zwar kann man die Frage bejahen, ob Kasasian sämtliche aufgeworfenen Rätsel lüftet, doch es ist kein Zeichen für gelungenes Erzählen, wenn nachträglich lang und breit erklärt werden muss, was zuvor geschehen ist. Natürlich sorgt der Autor dafür, dass faktisch sämtliche Bewohner von Gethsemane in Tatverdacht geraten. Auch hier fallen einige Wendungen ein wenig zu eng aus, weshalb man als Leser aus der Glaubenskurve getragen wird.
Vielleicht sollte man seine Erwartungen dämpfen, was nach Band 3 freilich nicht einfach ist. Für sich betrachtet sorgt auch der vierte Fall der „Gower-Street“-Detektive für eine unterhaltsame Lektüre. Nichtsdestotrotz hat Kasasian die Serie mit dem fünften Band (Dark Dawn Over Steep House) 2017 (vorläufig?) abgebrochen. Ihm dürfte aufgefallen sein, dass er sich in eine Sackgasse zu manövrieren drohte, die in produktivem Leerlauf münden könnte. Dem unterwerfen sich viel zu viele Autoren, wenn sie jenen Status erreicht haben, der ihren Werken ungeachtet echter Lektüretauglichkeit die Präsenz auf den Abverkaufs-Tischen der modernen Buchladenketten gewährt.
Fazit
Der vierte Band der „Gower-Street-Detective“-Serie bietet eher Routine als Spannung oder Handlungsrasanz. Die bewährten Elemente sind vorhanden, wollen sich aber nur bedingt entfalten. Darüber hinaus wird das Geschehen vor allem im Mittelteil nicht vorangetrieben, sondern breitgetreten: Die Lektüre bleibt vergnüglich, aber das Serienkonzept zeigt deutliche Abriebstellen.
M. R. C. Kasasian, Atlantik
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