Wisting und der See des Vergessens
- Piper
- Erschienen: April 2021
- 8
- OT: SAK 1569
- aus dem Norwegischen von Andreas Brunstermann
- TB, 416 Seiten
- Bd. 4 [Cold Cases]
Eine der besten skandinavischen Krimireihen
Der Spürsinn von William Wisting, der sich eigentlich im wohlverdienten Sommerurlaub befindet, wird geweckt, als er einen merkwürdigen Brief erhält. Auf dem weißen Blatt steht lediglich die Zahlenfolge „12-1569/99“, die Fallnummer eines Mordes aus dem Jahr 1999. Die 17-jährige Tone Vaterland verschwand damals auf dem Heimweg von der Arbeit; kurz darauf fand man ihre Leiche. Ihr Ex-Freund Danny Momrak wurde der Tat überführt und verurteilt - scheinbar ein schnell geklärter Mord, der in Vergessenheit geriet, obwohl der Verurteilte stets seine Unschuld beteuerte. Wisting erhält fast täglich weitere Briefe, deren Inhalte die Tat von damals in einem anderen Licht erscheinen lassen. Der Polizist beginnt zu ermitteln - doch nicht jedem gefällt, dass er die Sache neu aufrollt …
Tat eines Serienmörders?
Im Laufe der zunächst inoffiziellen Ermittlungen kommen Wisting immer mehr Zweifel an einer Täterschaft Momraks, der inzwischen seine Strafe abgesessen hat. Wurde damals schlampig ermittelt? Hatte vielleicht einer der leitenden Ermittler etwas zu vertuschen? Zunächst deutet einiges auf Jan Hansen, einen ehemaligen LKW-Fahrer, hin, der zwei Jahre nach Tones Tod der Vergewaltigung und Ermordung einer anderen jungen Frau überführt wurde. Doch auch ein junger Amerikaner, der damals im Rahmen eines Austauschprogramms in der Nähe bei einer Gastfamilie lebte, gerät in den Fokus des norwegischen Ermittlers. Ausgerechnet jetzt verschwindet eine weitere junge Frau - ein Fall mit erschreckenden Parallelen zu Tones Ermordung …
Erfolgreicher Bestseller-Autor
An Autor Jørn Lier Horst gibt es aktuell kein Vorbeikommen, wenn man über erstklassige skandinavische Kriminalromane spricht. Es ist erstaunlich, auf welch hohem Niveau der ehemalige Kriminalhauptkommissar seit einigen Jahren seine Romane verfasst. Dabei darf man den Autor durchaus als Vielschreiber bezeichnen: Wisting und der See des Vergessensist seit 2017 bereits der vierte Band der bei Piper veröffentlichten Cold-Case-Reihe um den Polizisten William Wisting. Parallel dazu erscheint in Zusammenarbeit mit seinem Schriftstellerkollegen Thomas Enger seit 2018 die Blix-Ramm-Reihe im Blanvalet Verlag. Wie Jørn Lier Horst im Interview mit der Krimi-Couch verriet, hat er noch genügend Ideen für weitere Bände der beiden Reihen. Darauf darf man sich bereits freuen.
Norwegischer Mankell?
Der Einfluss des Autors auf die norwegische Kriminalliteratur ist sicherlich vergleichbar mit der Bedeutung Hennig Mankells für die schwedische Krimiunterhaltung. Inhaltlich haben beide aber ihren ganz eigenen Stil: Mankells Romane sind atmosphärisch eher düster, und seine Hauptfigur schlägt sich mit eigenen und familiären Problemen herum. Horsts Romane überzeugen dagegen mit einem durchweg sympathischen und sehr klugen Ermittler, wobei der Schwerpunkt immer beim aktuellen Fall liegt. William Wisting ist ein fähiger Ermittler, der sich und seine Fähigkeiten sehr realistisch einschätzt und weiß, wann er Hilfe benötigt. Dabei stellt er sich nie in den Mittelpunkt seiner Ermittlungen; im Gegenteil: Durch seine zurückhaltende Art neigt man dazu, ihn und seine Intelligenz zu unterschätzen.
Scharfsinniger Ermittler
Auch der aktuelle Fall ist ein Beleg dafür, dass William Wisting zwar diplomatisch auftritt, aber dennoch mit Beharrlichkeit und großer Genauigkeit seine Ermittlungen verfolgt. Wisting, der mittlerweile kurz vor der Rente steht, stellt erneut unter Beweis, dass er durch und durch Polizist ist und keine Ruhe findet, bis der Täter überführt ist.
Dabei bekommt er es diesmal mit einem sehr komplexen Fall zu tun, bei dem letztendlich nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Autor Jørn Lier Horst versteht es geschickt, immer wieder falsche Fährten zu legen und für die ein oder andere Überraschung zu sorgen. Die Parallelgeschichte um die vermisste Agnete Roll, die am selben Tag verschwindet, als Wisting seine Urlaub antritt, verflechtet der Autor sehr clever mit den thematisierten Cold Cases. Allerdings ist Wisting zunächst nur indirekt in den aktuellen Vermisstenfall involviert, auch wenn er ihn interessiert verfolgt und ab und an seine Ideen mit den Ermittlern austauscht.
Kurzweilig und spannend
Der Roman ist sicherlich nicht in der Form temporeich, als dass sich die Ereignisse überschlagen würden und es wilde Verfolgungsjagden gibt - das würde auch gar nicht zu einer Figur wie William Wisting passen. Aber der Roman ist äußerst flüssig und kurzweilig geschrieben; die Handlung erstreckt sich trotz intensiver Ermittlungsarbeit nur über wenige Tage. An Wistings Seite tauchen auch diesmal dem Leser der Reihe vertraute Figuren, wie unter anderem Adrian Stiller von der Kriminalpolizei und die FBI-Ermittlerin Maggie Griffin, neben dem bekannten Ermittlerteam auf. Auch die Geschichte von Wistings Tochter Line und seiner Enkelin Amalie wird weitererzählt.
Der Roman zieht seine Spannung vor allem daraus, dass der Leser sich stets auf dem Wissensstand des Ermittlers befindet und somit wunderbar miträtseln kann, wer der Täter ist; dadurch entsteht eine große Nähe zum Geschehen und zur Hauptfigur. Die Romane des norwegischen Autors zeichnen sich durch eine - soweit wie für fiktionale Texte möglich - authentische Polizeiarbeit und genaue Figurendarstellung aus. Man merkt, dass mit Jørn Lier Horst jemand schreibt, der den Polizeidienst aus eigener beruflicher Erfahrung bestens kennt.
Fazit
Jørn Lier Horsts Romane sind das Beste, was die skandinavische Krimiliteratur aktuell zu bieten hat. Dies mag auch daran liegen, dass seine Bücher meist von der gewohnten düsteren Atmosphäre und dem mitunter melancholischen Erzählstil anderer skandinavischer Kriminalromane abweichen. Stattdessen überzeugt der Autor mit einem scharfsinnigen Ermittler, einem erstaunlich leichten Schreibstil und einer durchweg spannenden, wendungsreichen Handlung - ein mehr als überzeugender Roman.
Jørn Lier Horst, Piper
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