Der Erlkönig
- Ullstein
- Erschienen: März 2021
- 4
- OT: Les Refuges
- aus dem Französischen von Alexandra Baisch
- TB, 416 Seiten
Ein mehr als spannender Krimi
Wenige Tage nachdem Sandrine Vaudier zu der Insel aufgebrochen ist, auf der ihre verstorbene Großmutter Suzanne gelebt hat, findet man sie verstört und mit fremdem Blut an ihren Kleidern am Strand. Sie wird ins Krankenhaus eingeliefert. Was sie erzählt, ist vollkommen wirr. Kommissar Damien und sein Assistent Antoine können sich keinen Reim darauf machen: Von welchem Kinderheim spricht Sandrine? Was hat es mit dem Bootsunglück auf sich, bei dem alle Kinder ums Leben gekommen sein sollen? Und weshalb stammelt sie immer wieder voller Schrecken diesen einen Namen: der Erlkönig? Damien folgt den Puzzleteilen von Sandrines Geschichte – und blickt schon bald in einen Abgrund, der dunkler ist als jede Nacht…
Mysteriöse Insel
Sandrine hat der Großstadt Paris den Rücken gekehrt und tritt gerade erst ihre Stelle als Journalistin bei einer lokale Zeitung in der Normandie an, als sie vom Tod ihrer Großmutter Suzanne erfährt. Diese hat kurz nach dem Krieg als leitende Betreuerin in einem Ferienlager auf einer abgelegenen Insel gearbeitet und diese auch später nicht verlassen. Obwohl Sandrine keinerlei Kontakt zu ihr hatte, muss sie deren Nachlass regeln. Die Journalistin spürt schnell, dass irgendetwas mit der Insel nicht stimmt. Alle Versuche, den geheimnisvollen Ort zu verlassen, scheitern und Sandrine erfährt Dinge, die schrecklicher nicht sein könnten.
Erfolgreicher Drehbuchautor
Der französische Autor Jérôme Loubry, geboren 1976, ist hierzulande noch weitestgehend unbekannt. Er lebt nach Stationen im Ausland heute in der Provence. Für seinen Debütroman Die Hunde von Detroit gewann er 2018 den „Prix Plume libre d’Argent“. Der nun in Deutschland beim Ullstein Verlag erschienene Kriminalroman Der Erlkönig wurde 2019 mit dem „Prix Cognac du meilleur roman francophone“, einem der renommiertesten Krimipreise Frankreichs, ausgezeichnet. Loubry gilt als der aufsteigende Stern am französischen Krimihimmel. Der aktuelle Roman liefert einen eindrucksvollen Beleg dafür: Loubry nimmt den Leser mit auf eine düstere Reise voller Geheimnisse, Ängste und überraschender Wendungen.
Refugium als Schutzschild
Es ist eigentlich unmöglich, den Inhalt des Romans darzustellen, ohne dabei bereits zu viel zu verraten. Aber man kann etwas zum Thema sagen. Der besondere Clou des Buches, dessen Originaltitel Les Refuges lautet, ist, dass er zum einen auf verschiedenen Erzählebenen spielt und zum anderen wunderbar mit Wahrheit und Fiktion spielt. Wie der französische Titel bereits verrät, geht es um Refugien. Ein Refugium ist ein sicherer Ort, an dem jemand seine Zuflucht findet, an den er sich zurückziehen kann, um ungestört zu sein; kurz gesagt: ein Zufluchtsort. Dies ist hier aber nicht im physischen Sinne gemeint.
Ein Refugium meint im Roman einen psychischen, mentalen Rückzugsort und eine Art Schutzschild. Das Opfer Sandrine hat offenbar eine Extremsituation durchlebt. Der immer noch bestehende starke Stress sorgt dafür, dass sie sich in einer Art Schwebezustand befindet, einer emotionalen Leere, als Schutzreaktion ihres Körpers. Ein Refugium ist somit nichts anderes als die neurobiologische Antwort auf diese extreme Stresssituation. Im Rahmen einer posttraumatischen Störung versucht das Opfer nun, die verdrängte „biografische“ Lücke, an die es sich nicht mehr erinnern will bzw. kann, mit einem Refugium zu füllen: eine parallele Erinnerung, die sich über die Realität stülpt, damit das Opfer nicht länger leidet; eine vom Gehirn vorgetäuschte Illusion.
Für Inspektor Damien geht es zusammen mit der Psychiaterin Burel zunächst darum, die Ursache für das Refugium von Sandrine zu ergründen, um so auf die Spur dessen zu kommen, was ihr angetan wurde. Dafür muss man ihr aber die Angst vor dem Täter bzw. dem einstigen Geschehen nehmen, was sich als nahezu unmöglich herausstellen soll.
Ungewöhnliche Tätersuche
Man muss kein Neurobiologe oder psychologischer Experte sein, um der Handlung folgen zu können - man erkennt sehr schnell die Zusammenhänge. Darüber hinaus erzeugt der Plot eine derartige Spannung und Faszination, dass man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen mag. Man sollte den Roman von der ersten Seite an äußerst aufmerksam lesen, auch wenn die Details noch so unwichtig erscheinen; nur so erschließt sich später seine Brillanz. Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Der Autor spielt regelrecht mit dem Leser. Sobald man das Prinzip des Refugiums verstanden hat, beginnt ein außergewöhnliches Miträtseln, weil man selber versucht, die Bedeutung der Refugien und ihre Symbolik zu entschlüsseln. Gelungen ist auch Loubrys Spiel mit Goethes bekanntem Gedicht Der Erlkönig und dessen Interpretationsmöglichkeiten, über die man bis heute streitet. Dabei spielt gerade die Auflösung dieses Symbols eine ganz entscheidende Rolle.
Verschiedene Erzählebenen
Die Struktur der Handlung ist ebenfalls außergewöhnlich: Die Rahmengeschichte bildet die Vorlesung von François Villemin 2019 im Anatomischen Theater der Universität Tours, in der es um „Sandrines Refugien“ geht. Am Schluss des Romans reflektiert und bewertet der Professor mit seinen Studierenden die Ereignisse. Innerhalb dieses Erzählrahmens spielt die Geschichte auf zwei Zeitebenen. So erfährt der Leser in Zwischenkapiteln einiges über die Geschehnisse, die sich 1949 auf der Insel abgespielt haben, als Suzanne dort als Betreuerin gearbeitet hat. Sandrines Erlebnisse und die dramatischen Ereignisse um sie finden im November 1986 statt. Diese zeitlichen Ebenen spielen für die Refugien und deren Auflösung des Falls am Ende eine wichtige Rolle.
Fazit
Kaum ein Kriminalroman in den letzten Jahren hat die Schattenseiten der menschlichen Psyche derart meisterhaft dargestellt wie Jérôme Loubry in seinem aktuellen Roman. Seine Erzählung ist verstörend, beängstigend und gleichzeitig unendlich traurig. Der Roman kennt keine Gewinner, sondern nur Verlierer. Der Erlkönig ist nicht nur ein äußerst spannender Roman, sondern insbesondere ein Meisterwerk kriminalistischer Erzählkunst.
Jérôme Loubry, Ullstein
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