Landnahme
- ariadne
- Erschienen: März 2021
- 1
- OT: Dead Land
- aus dem Englischen von Laudan & Szelinski
- HC, 540 Seiten
Mehr, mehr, mehr - und problemlos über Leichen
Statt sich leidlich lukrativ auf ihren Lebensunterhalt zu konzentrieren, lässt sich Victoria Iphigenia „Vic“ Warshawski, Privatdetektivin in Chicago, wieder für einen Kreuzzug gegen die zwar nicht Großen, aber Mächtigen - und vor allem Gierigen - dieser Welt vereinnahmen. In einem Stadtpark stößt sie auf eine völlig verwahrloste Frau, die ihrem Spielzeugklavier zauberhafte Töne entlockt: Hier ist Lydia Zamir, die berühmte Liedermacherin, nach einer nie verwundenen Tragödie gelandet. Vor vier Jahren wurde ihr Lebensgefährte, der chilenische Menschenrechtler Hector Palurdo, auf offener Bühne von einem Irren erschossen, der dabei noch 16 andere Menschen tötete.
Der Täter wurde gefasst und beging im Gefängnis Selbstmord, aber Lydia rieb sich im Kampf gegen vermeintliche Drahtzieher auf, bis sie ihren Verstand verlor. Dass ihre Gegner nicht nur existieren, sondern sie weiterhin beobachten, merkt Warshawski, sobald sie sich für Lydia einsetzt - und feststellt, dass sie einer anderen neuen Schweinerei auf die Spur geraten ist: Offensichtlich ließ Gifford Taggett, Superintendent für die Parkbehörde, sich kaufen, um ein bürgerfernes, aber lukratives Immobilienprojekt durchzuwinken.
Zwei Morde später weiß Warshawski, dass mit ganz harten Bandagen gegen Störenfriede vorgegangen wird. Auch die Detektivin muss wieder einmal buchstäblich bluten, als sie die Zusammenhänge zu ordnen versucht: Lydia Zamir ist die letzte Zeugin einer seit Jahrzehnten blühenden, aber kapitalkriminellen Erfolgsgeschichte, die im fernen Chile zur Zeit der Pinochet-Diktatur ihren Anfang nahm. Der Tyrann ist tot, aber seine Methoden - Drohung und Mord - werden von denen, die er einst förderte, dort eingesetzt, wo sie weiterhin bzw. aktuell erst recht von Vorteil sind: in der globalisierten Wirtschaft …
„Idealist“ = „Idiot“?
1982 wechselte V. I. Warshawski die Seiten, schoss eine Karriere als Anwältin in den Wind und ging auf die Straße, um sich fürderhin nicht nur als Privatermittlerin ein (schmales) Einkommen zu sichern. Sie stellte sich dabei auf die Seite derer, die durch die breiten Maschen des US-Justizsystems fielen: „Es machte mich damals rasend, dass der Makro-Abschaum fast immer ungeschoren davonkam, die Macher in der Politik, die guten alten Seilschaften, die Broker und Banker. Gelang es tatsächlich mal, einen davon anzuklagen, dann verfügten sie über bodenlose Geldreserven für Anwälte und Ermittler.“ [S. 71]
So lässt Autorin Sara Paretsky ihre Heldin in Landnahme, dem 20. Band der Warshawski-Serie, knapp zusammenfassen, was nach so vielen Jahren weiterhin ihr Leben bestimmt. Der typische Warshawski-Krimi mag mit einem ‚normalen‘ Verbrechen starten, doch stets kommt der Moment, in dem sich die oben genannten Kräfte offenbaren. Stets bleiben sie im Hintergrund, scheuen zwar nicht die Öffentlichkeit, spreizen sich aber nur dann vor den Medien, wenn sie die Fäden in den Händen halten. Für die Drecksarbeit werden ‚Fachleute‘ angeheuert, zu denen die Herren genug Abstand halten, damit Blutspritzer nicht ihre weißen Westen besudeln.
In Landnahme gerät Warshawski mit ihrer kurzen Lunte in Sachen Menschenrechtsverletzungen in ein Komplott, das sich - auch das ist üblich - nur als Spitze eines Eisbergs erweist, der tief dort ins gesellschaftliche Abseits hinabreicht, wo sich Recht und Unrecht auflösen bzw. zum Begriff „Profit“ zusammenschmelzen. Einmal mehr nutzt Paretsky ihr Wissen über ein modernes Immobilien(un)wesen, das im Windschatten spektakulärer Großprojekte gegen Gemeininteressen verstößt und sich von der öffentlichen Hand nicht nur bezahlen lässt, sondern selbst zugreift.
Seidenweich und hinterlistig vs. empört und einfallsreich
Warshawski gerät konstant dorthin, wo die Opfer solcher Machenschaften sich zu wehren versuchen. Erwartungsgemäß wird dies zum Kampf David gegen Goliath, wobei letzterer sich von den oben erwähnten Handlangern vertreten lässt. Die Handlung beschreibt das ungleiche Tauziehen zwischen dem übermächtigen Kraken und der unterlegenen, aber entschlossenen und einfallsreichen Detektivin. Wieder und wieder muss Warshawski Rückschläge einstecken, die ihren kargen Besitz und sogar ihr Leben bedrohen - doch ungeachtet aller Niederschläge bleibt sie am Ball.
Hartnäckigkeit zahlt sich aus; zusätzlich kann sich Warshawski auf eine kleine, aber ebenso idealistische Gruppe lebenslanger Freunde verlassen. Paretsky scheut hier nicht vor Überzeichnung zurück, weshalb auch dieses Mal der (schon seit vielen Serienbänden) beinahe hundertjährige Mr. Contreras seinen gewaltigen Schraubenschlüssel zum Schutz seines „Cookies“ Victoria schwingen darf.
Schon dass sie den Spitznamen duldet, ist ein Privileg, denn Warshawski ist eine selbstbewusste Frau, die keines männlichen Schutzes bedarf. Sie kann darum bitten, aber generell zieht sie den Alleingang vor. Es gehört zu den positiven Aspekten dieser Serie, dass Paretsky der feministische Gedanke wichtig ist, sie ihn jedoch nie die Handlung übernehmen lässt. Im Zentrum steht - trotz oftmals gewaltiger Exkurs-Ellipsen - der jeweilige Fall.
Die Wurzeln des Bösen (bzw. Gleichgültigen)
Organisiertes Unrecht ist aus Paretskys Sicht keine Eintagsfliege, sondern ein grundsätzliches Übel. Entsprechende Strukturen und Netzwerke wuchern langsam; sie mögen sich verändern, aber dabei passen sich höchstens den jeweiligen Umständen an, ohne ihren kriminellen Kern zu verleugnen. So wird es möglich, dass ein Konzern, der in Chicago ein Seeufer in ein Domizil für die Reichen verwandeln will, in Vorgänge verstrickt ist, die sich vor langer Zeit und in großer Entfernung ereigneten. Paretsky blendet dieses Mal die Ära Pinochet zurück - und erinnert damit gleichzeitig an eine traurige Episode der Weltgeschichte: 1973 putschte sich General Augusto Pinochet in Chile an die Macht, die er viele Jahre brutal ausübte. Während seines Regimes verschwanden tausende Kritiker und Gegner; sie wurden gezielt gefangengenommen, ermordet und verscharrt. Der US-Geheimdienst half Pinochet, der als Gegenleistung „die Kommunisten“ aus Chile fernhielt.
Zum Mord als Instrument des Machterhalts kam eine Wirtschafts-‚Reform‘, die vor allem denen Reichtum brachte, die sich auf die Seite des Diktators schlugen. Paretsky destilliert daraus die recht komplizierte Geschichte eines Widerständlers, der zwar aus Chile entkommen konnte, aber von seinen Gegnern in den USA ermordet wurde. Als ‚Tarnung‘ diente der Amoklauf eines verwirrten Waffennarren, was der Autorin ein weiteres Kritikfeld eröffnet; es richtet sich gegen die Waffengesetze ihres Heimatlandes, die kranken Spinnern immer wieder in die Abzugsfinger spielen.
Elementar für die Handlung sind darüber hinaus die alltäglichen Ungerechtigkeiten, mit denen die US-Unterschicht konfrontiert wird. Paretsky prangert nicht mit erhobenem Zeigefinger an (bekanntlich die sicherste Methode, Spannung und Stimmung zu töten), sondern beschreibt plastisch, wie der Wille zur Macht das Mitgefühl für jene tötet, denen man helfen soll. Paretsky schießt diesbezüglich über das Ziel hinaus: Warshawski ist viel zu gut um wahr zu sein in einer Welt, die Solidarität mehr und mehr als Schwäche zu definieren scheint. Darüber gerät Landnahme allerdings nie zum Märchen: Zwar werden final einige Strolche geschnappt, aber die Hauptverantwortlichen können sich ihrer Verantwortung entziehen. Es ist, wie es ist; man muss mit kleinen Erfolgen zufrieden sein. Auf dem Weg zu dieser Erkenntnis füllt Paretsky mehr als 500 Seiten mit einer durchweg spannenden Geschichte. Ohne Mr.-Right-Schmalz, ohne kaliberstarke Feuergefechte oder detailfrohe Metzel-Szenen, mit denen moderne Krimis allzu oft verschnitten werden, fügt die Autorin ihrer Serie einen weiteren Band an, dessen offensichtlich altmodisch gewordenen Qualitäten wehmütig stimmen - und die Vorfreude auf Band 21 schüren!
Fazit
Der 20. Band der V.-I.- Warshawski-Serie ist ebenso seiten- wie unterhaltungsstark. Nach bewährtem Muster konzipiert, aber spannend variiert sowie in eine gut recherchierte Hintergrundgeschichte eingebettet, beschreibt die Autorin abermals ein Verbrechen, das Wirtschaft, Politik und Justiz instrumentalisiert, statt möglichst bizarre Morde zu produzieren - ein altmodisch solider, ausgezeichneter Thriller.
Sara Paretsky, ariadne
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