Ghost Station

  • Rütten & Loening
  • Erschienen: März 2021
  • 0

- aus dem Englischen von Matthias Frings

- TB, 424 Seiten

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Michael Drewniok
70°1001

Krimi-Couch Rezension vonApr 2021

Überfordert zwischen Doppel- und x-fach Agenten

Mitte Oktober des Jahres 1961 hat der Kalte Krieg zwischen dem „freien Westen“ und dem „Ostblock“ einen neuen Höhepunkt erreicht. Schauplatz ist Berlin, die Hauptstadt des seit 1949 geteilten Deutschlands. Von der UdSSR mehr oder weniger deutlich unterstützt (bzw. manipuliert), hat sich in der „Sowjetischen Besatzungszone“ die „DDR“ etabliert. Der praktizierte Sozialismus konnte die skeptischen Bürger nicht überzeugen, weshalb sie sich seit Jahren in den Westen absetzen. Um dem ein Ende zu setzen, lässt das DDR-Regime im August praktisch über Nacht eine Mauer quer durch Berlin ziehen.

Die Geheimdienste des Westens wurden kalt erwischt - ein Schock, der nachwirkt, als die Handlung dieses Romans einsetzt. Berlin ist eine Hochburg für Spione, die sich nun auf einen deutlich komplizierteren ‚Arbeitsalltag‘ einstellen müssen. In Neukölln gehört die „Cabin“ zu einer der zahlreichen ‚Büros‘, in denen der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) mit der US-amerikanischen CIA direkt zusammenarbeitet. Spezialisten analysieren, was im Ostsektor vor sich geht bzw. ihnen von Agenten zugetragen wird. Sie müssen vorsichtig sein, denn die Gegenseite ist stets bemüht, ihnen einen „Maulwurf“ - einen Doppelagenten - ins Nest zu setzen.

Der bisher eher gemütliche „Cabin“-Alltag ist vorbei, als ein Ost-Agent diese Nachricht sendet: Die Staatssicherheit der DDR will einen Spitzel einschleusen! Oder ist dies bereits geschehen? Der Kontakt zum Informanten ist unsicher und womöglich eine Falle. Misstrauen flammt auf. Welchen Kollegen kann man trauen? Wallace Reed, ein begabter, aber als Agent unbedarfter Kryptograph, gerät unfreiwillig an Informationen, die ihn zu lebensgefährlichen Entscheidungen zwingen …

Irrsinn als Alltag: Roman nach Tatsachen

Es ist gar nicht so lange her, dass die Welt einerseits übersichtlicher war und andererseits ständig am Rand eines Abgrunds balancierte: Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion stand diese den USA zuverlässig als Erzfeind und Bösewicht gegenüber. Im Rückblick schürten beide Seiten einen Konflikt, der als „Kalter Krieg“ in die Geschichte einging, aber mehr als einmal in eine ‚heiße‘ Phase umzuschlagen drohte. Seit 1945 hätte dies einen Atomkrieg bedeutet, nach dessen Ende die Erde größtenteils unbewohnbar gewesen wäre.

Im Sommer 1961 schien es wieder einmal - und dieses Mal endgültig - so weit zu sein: In Berlin und damit mitten in Europa setzte besagter „Ostblock“ - nur dürftig die sowjetroten Fäden verbergend, an dem die ‚Machthaber‘ der DDR zappelten - provokativ ein deutliches Zeichen. Ein „Schutzwall gegen den West-Faschismus“ wurde errichtet, der tatsächlich die endlose Republikflucht stoppen sollte, welche die DDR vor allem fachkräftemäßig auszubluten drohte sowie keine Werbung für den Sozialismus darstellte.

Schon zuvor war Berlin zu einer Drehscheibe der internationalen Spionage geworden. Nun erreichte das gegenseitige Bespitzeln eine neue Dimension, denn die gut bewachte Mauer stellte sich als erhebliches Hindernis im ‚Informationsaustausch‘ dar. Es dauerte Jahre, bis sich die Geheimdienste beider Seiten darauf eingestellt hatten; denn selbstverständlich fand der Agentenkrieg kein Ende - im Gegenteil!

Idealist in (Gewissens-)Nöten

An dieser Stelle soll und muss nicht näher auf die historische Situation eingegangen werden. Auch Dan Wells lässt sie nur dort in seine Geschichte einfließen, wo es ihr nützlich ist. Ansonsten konzentriert er den Fokus auf die „Cabin“ und die dort beschäftigte Spitzeltruppe, was auch deshalb ein kluger Schachzug ist, weil deren Ratlosigkeit sich auf uns Leser überträgt: Die angeblichen Spezialisten sind überrumpelt und überfordert von einer Weltpolitik, die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft stattfindet und sich im aberwitzigen Tempo zu einem Krieg aufzuschaukeln scheint.

Wallace Reed ist ein Jedermann, der einen gut bezahlten, interessanten Job fern der Gefahren ausübt, der sich die ‚echten‘ Agenten ausgesetzt sehen. Seine Anwesenheit in Ost-Berlin ist nicht vorgesehen; Reed soll Nachrichten von ‚drüben‘ entschlüsseln - eine reine Schreibtischtätigkeit, obwohl er eine Dienstwaffe trägt. Das Dechiffrieren betrachtet Reed als aufregende Herausforderung und intellektuelles Vergnügen, obwohl er sich dies nur selten eingesteht.

Um als Hauptfigur interessanter zu wirken, muss Reed einige Ecken und Kanten an den Tag legen: Wells dichtet ihm eine faktisch verbotene Liebesbeziehung an, die der US-Kryptograph mit einer deutschen BND-Kollegin unterhält. Wells ist nicht gerade ein Talent in Sachen Liebesgeflüster; zudem legt er Lise Kohler diverse Banalitäten in den Mund, die sich u. a. um ein Nachkriegs-Deutschland ranken, in dem weiterhin ehemalige Nazis (wieder) das Sagen haben, weil sie im Kalten Krieg den USA und ihren Verbündeten vor Ort nützlich sind - ein Konflikt, den Wells „Cabin“-intern offen zwischen einem Ex-Nazi und einem Juden ausbrechen lässt, die nun Seite an Seite arbeiten (müssen). In solchen Passagen schaltet man als Leser ab - denn Wells beschränkt sich auf die üblichen Plattitüden, die der klassische Spionage-Thriller mit sich schleppt. (Nicht vergessen werden sollte darüber, dass diese „Plattitüden“ sich aus tragischen Real-Schicksalen speisen).

Die Macht des (verschlüsselten) Wortes

Ghost Station ist kein handlungsintensiver Roman. Meist sitzt Wallace Reed auf seinem Hintern und denkt nach, weshalb Wells die ‚Action‘ in sein Hirn verlegt: Dort werden Geheimbotschaften entschlüsselt - an sich kein unbedingt spannender Vorgang, obwohl sich Wells bemüht, die Faszination zu vermitteln, die darin liegen kann, einer wirren Buchstaben- oder Zahlenkombination eine Nachricht zu entlocken. Noch süßer schmeckt der Sieg über einen gegnerischen Kryptographen, dessen Code man knacken konnte! Ein wenig zu ausführlich widmet sich Wells diesem Thema, doch ihm gelingt es, auch diese Bedeutung einer verschlüsselten Nachricht zu vermitteln: Ein Code kann buchstäblich über Leben und Tod entscheiden!

Obwohl Reed sich diesbezüglich wacker schlägt, zieht ihm Wells gleichzeitig den Boden unter den Füßen weg. Ein ‚Kampf‘ zwischen Agenten findet stets auf einer diffusen Erkenntnisebene statt. Hier kann Wells punkten, indem er Reeds zunehmende Verwirrung schildert: Wem kann er trauen? Beweise für eine mögliche Unschuld fügen sich im nächsten Moment in ein Schuld-Bild. Reed möchte sich austauschen, wagt es aber nicht, sich zu offenbaren. Nicht nur in der „Cabin“ könnte der Feind schon lauschen; im Agenten-Kosmos ist er gleichermaßen unsichtbar wie allgegenwärtig.

Insofern ist Reeds heimlicher Vorstoß in den Ostteil der Stadt und erst recht die finale Verfolgungsjagd durch die Berliner U-Bahn weniger handlungsrelevant als der ‚typischen‘ Aufklärung einer solchen Story geschuldet: Man darf durchaus denken, aber irgendwann muss es doch krachen! (Wie üblich nimmt sich der Feind zwischen gezielten Schüssen freundlicherweise viel Zeit und füllt diverse Erkenntnislücken mit Inhalten.) Ghost Station - der Titel nimmt Bezug auf die Berliner U-Bahnstationen, die nach der Teilung der Stadt dort stillgelegt wurden, wo die West-Strecke DDR-Territorium unterquerte - ist kein „atemberaubender Spionage-Roman“, sondern erzählt routiniert eine schlichte Geschichte mit ebensolchen Worten (der Roman erschien ursprünglich als Hörbuch, das durch die Ohren ins Hirn gelangen sollte). Die Grundzüge dieses Romans habe er binnen einer Nacht festgelegt, schreibt der Verfasser in einem Nachwort; dies mag das Ergebnis geprägt haben …

Fazit

Eher unspektakulärer Thriller, der gut recherchiert, aber innovationsfrei die üblichen, oft zum Klischee geronnenen Elemente des Genres bedient. Spannung wird primär durch die Frage nach unsichtbaren, aber stets präsenten Kräften erzeugt. Ein wenig zu ausführlich sind die Exkurse zum Thema Geheimcodes, auffällig leblos wirkt die (obligatorische) Love-Story, das Finale ist beliebig: Routine-Thriller.

Ghost Station

Dan Wells, Rütten & Loening

Ghost Station

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