Die siebte Zeugin

  • Knaur
  • Erschienen: Februar 2021
  • 19

- TB, 320 Seiten

- Bd. 1 [Eberhardt & Jarmer ermitteln]

Die siebte Zeugin
Die siebte Zeugin
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Sabine Bongenberg
60°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2021

Wenn die Polizei in der Nase bohrt

Es ist ein kalter Sonntagmorgen, als der bis dahin unbescholtene Normalo und Familienvater Nikolas Nölting wie jedes Mal die Brötchen holen geht. Unüblich ist aber, dass er einen Polizisten niederschlägt, sich dessen Waffe bemächtigt und in der Bäckerei wild um sich ballert. Die Bilanz dieses Attentats: Zwei Personen mit Schusswunden und ein Toter. Nölting versucht erst gar nicht, zu fliehen, wartet am Tatort auf die Polizei und lässt sich widerstandslos verhaften. Nach seinem Motiv gefragt, schweigt er beharrlich, und so ist es jetzt schon absehbar, dass er für lange, lange Zeit hinter den guten alten schwedischen Gardinen verschwinden wird. Aber das ruft den Rechtsanwalt Rocco Eberhard auf den Plan ...

Das Autorenduo Florian Schwiecker und Michael Tsokos lässt hier ein neues Ermittlerduo die Hintergründe an diesem Mord ermitteln: Es sind Rechtsanwalt Rocco Eberhard und Rechtsmediziner Justus Jarmer, die hier – von der Ehefrau des Mörders beauftragt – die Motive suchen, die zu seiner Tat führten. Der Täter selbst schweigt weiterhin. Jetzt wird natürlich der kritische Leser aufschreien und darauf hinweisen, dass eine solche Suche die Aufgabe der Polizei sei, und natürlich ist mir das auch bekannt - dem Autorenduo offensichtlich aber nicht, oder es ist in Berlin tatsächlich so, dass die Polizei irgendwo bei einem Kaffee in einem heimeligen Büro sitzt und in der Nase bohrt, während Rechtsanwälte, Privatdetektive und Gerichtsmediziner die Ermittlungen führen.

Routinierter und gut erzählter Justizkrimi

Wer sich von solchen Nebensächlichkeiten nicht beeinflussen lässt, steigt ein in eine flüssig erzählte Geschichte, in der die Verstrickungen um den Mordfall interessant und anschaulich ermittelt und aufgearbeitet werden. Mich störten dabei nur ein paar kleine Macken: beispielsweise dass Titel, Vorname und Nachname beteiligter Personen (ich sage nur „Vorsitzende Richterin Doktor Ariane Gregor“) gebetsmühlenartig wiederholt wurden und ich mich auch manchmal fragte, warum Beschreibungen wie „Er drückte die Zigarette in dem billigen Aschenbecher aus, auf dem das Logo einer bekannten Zigarettenmarke prangte“ die Handlung voran treiben sollten und ob sich an der Geschichte etwas geändert hätte, wenn es das Logo einer unbekannten Schnapsfirma gewesen wäre - aber sei’s drum. Tsokos und sicherlich auch Schwiecker stehen für das routinierte Abwickeln einer Geschichte, und das wird hier geliefert.

Als viel problematischer betrachte ich andere Elemente der Handlung: So halte ich es für nicht wahrscheinlich, dass ein Täter in der Lage ist, jemanden so gezielt niederzuschlagen, dass der tatsächlich sofort zu Boden geht (und 20 Minuten später mit nur leichten Blessuren wieder auf den Beinen ist), ohne sich vorher mit diesem Metier befasst oder darin geübt zu haben; dasselbe gilt für den Gebrauch einer Schusswaffe. Meiner Kenntnis nach funktioniert das nicht einfach nach dem Prinzip: Ziehen und Ballern, sondern da ist auch noch etwas mit dem Thema Entsichern, Zielen, und auch mit Rückstoß und so. Unterm Strich ist der Gebrauch eines Schießgewehrs gar nicht mal so einfach - zumindest laut meiner laienhaften Einschätzung. Ein zielorientierter Mörder wäre somit eher auf der sicheren Seite, würde er sich im Fachhandel beispielsweise eine Machete besorgen - die ja auch dem Ungeübten beachtliche Erfolge verspricht. Natürlich würde nach einem solchen Blutbad nicht die zweite Ebene des Krimis funktionieren, die nämlich die These aufstellt, dass der Zweck jedes Mittel heiligt. Hier sind wir dann bei dem Punkt, der mich tatsächlich massiv stört: Dem Leser soll ein Tätermotiv verkauft werden, das impliziert, dass im Prinzip keine andere Wahl bestand und im Übrigen vermutlich jeder so gehandelt hätte.

Die Lösung des Falls wird abschließend auf einen juristischen Kniff zurückgeführt, und wenn es auch die beschriebene Möglichkeit in der deutschen Rechtsprechung tatsächlich gibt, so hätte ich doch hier diverse Fragen. Ähnliche Fragen wirft übrigens auch die Beteiligung einer Familie auf, die hier nach dem besten Muster der Hamadis in den 4 Blocks auch noch etwas mitzureden hat - und bei der unser rechtschaffener Rechtsanwalt keine Probleme hat, einen *hüstel* etwas zwielichtigen Zeugen einzubinden. Gar nicht erst anfangen möchte ich bei dem Thema „Datenschutz“, das laut Buch in jeder Behörde offensichtlich „Neuland“ ist. Grundsätzlich ist es natürlich der dichterischen Freiheit überlassen, jemandem mit miesen Tricks seine „Du kommst aus dem Gefängnis frei“-Karte zu beschaffen. Ganz anders sieht das aber aus, wenn verkauft werden soll, dass das moralisch vollkommen okay und im Großen und Ganzen an der Tagesordnung sei.

Fazit

Das Autorenduo Schwiecker und Tsokos hat hier ein Ermittlerduo vorgestellt, das in einer gut erzählten Geschichte eine befremdliche Tat mit einem noch befremdlicheren Ergebnis präsentiert. Sicherlich muss nicht alles in einem Krimi dem tatsächlichen Leben entsprechen, und natürlich werden zugunsten von Tempo und Spannung einige Fakten geopfert. Was aber hier geboten wird, hat mit der Realität meiner Einschätzung nach nicht mehr viel am Hut und verkauft dazu eine eigenartige moralische Aussage: „Das hätte vermutlich jeder so gemacht.“ Die Herren Schwiecker und Tsokos: Nein, das hätte nicht jeder so gemacht.
 


Leserhinweis: Wer sich über den juristischen Begriff der Rechtsfolgenlösung noch ein bisschen besser informieren will, der findet – tatsächlich anschauliche – Beispiele, wenn er „Rechtsfolgenlösung BGH bei atypischem Mord“ googelt.

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