Das Geheimnis von Dower House
- Klett-Cotta
- Erschienen: September 2020
- 4
- OT: Thou Shell of Death
- aus dem Englischen von Jobst-Christian Rojahn
- HC, 333 Seiten
- ursprüngliches Erscheinungsjahr: 1936
Der (Todes-)Fall des tapferen Fliegers
Er gilt als englischer Held: Fergus O’Brien hat im „Großen Krieg“ als Kampfflieger seine Gegner vom Himmel gefegt und sich später einen Namen als kühner Entdecker der Lüfte gemacht. Nach einem nur knapp überstandenen Absturz zieht er sich aus der aktiven Fliegerei zurück, arbeitet aber an der Konstruktion eines Fluggeräts, das die Kriegsluftfahrt revolutionieren könnte.
Kein Wunder also, dass die Regierung ein Auge auf den exzentrischen Mann hält, dem allerdings schon im Krieg jegliche Kontrolle verhasst war. Er haust recht luxuriös in Dower House, einem einsam gelegenen Landsitz in Somerset. Dort erhält O’Brien aktuell Drohbriefe, deren Verfasser ihn als Lügner und Feigling beschimpft sowie seinen Tod am 2. Weihnachtstag des laufenden Jahres ankündigt.
Der steht bevor - aber eine Polizeieskorte lehnt O’Brien kategorisch ab. Glücklicherweise kann Sir John Strangeways, stellvertretender Polizeipräsident von London, auf seinen Neffen Nigel zählen; der ist ein erfolgreicher Privatdetektiv sowie unkonventionell genug, um von O’Brien geduldet zu werden. Also ist Strangeways unter den Gästen, die gleichzeitig Verdächtige sind, da nur sie O’Brien über die Festtage nahekommen werden. Die Gesellschaft ist ebenso illuster wie zwielichtig - weshalb sich die Ermittlungen kompliziert gestalten, als O’Brien trotz aller Vorsichtsmaßnahmen zum angekündigten Zeitpunkt mit einer Kugel im Herzen sein Leben aushaucht …
Wieder ein ‚unmöglicher‘ = ‚perfekter‘ Mord
Sämtliche Weichen sind so gestellt, dass wir hoffen dürfen, nach unterhaltsamer Lektüre formvollendet das Finale eines perfekten englischen Rätsel-Krimis zu erreichen. Das Geheimnis von Dower House ist buchstäblich ein Klassiker, da 1936 und damit in der großen Zeit dieses Genres entstanden. Als Autor zeichnet sich mit Cecil Day-Lewis (1904-1972) einer der Besten seiner Zunft verantwortlich, der es nicht nur zum Hofdichter von Queen Elizabeth brachte, sondern als „Nicholas Blake“ auch die Liebhaber gediegener „Whodunits“ begeisterte.
Formal und inhaltlich sorgt Das Geheimnis von Dower House jederzeit für den erhofften Lektüregenuss. Schon die Einleitung - ein Stimmungsbild der Londoner City im vorweihnachtlichen Konsumtrubel - zeigt Blake als Meister des Wortes, der sich nie scheut, selbst banales Geschehen gleichermaßen gekonnt wie ironisch zu überhöhen; er verfügte über das dafür erforderliche literarische Talent, und die (aus einer früheren deutschen Veröffentlichung übernommene) Übersetzung kann erfreulicherweise mithalten.
Die Kulisse ist ebenso bekannt wie bewährt: Irgendwo in einer englischen Grafschaft steht gut isoliert von der Außenwelt ein Landhaus, in dem sich zur Winterzeit eine kleine, nur bedingt feine sowie untereinander zerstrittene Gesellschaft trifft. Lange vor der Klimaerwärmung bilden Schnee, Eis und Kälte eine zusätzliche Barriere, sodass die Außenwelt erst in Erscheinung treten kann, als sich das auslösende Drama ereignet hat. Auch in diesem Punkt ist Autor Blake Purist: In die Gartenwerkstatt, wo Fergus O’Briens ermordet liegt, führt durch den Schnee nur eine = seine (?) Fußspur. Wer hat ihn also wie umbringen können?
Die üblichen = allzu Verdächtigen
Schon bevor es den Hausherrn erwischt, kann Strangeways beobachten, dass sich die Gäste besser kennen, als sie es zugeben möchten. Dies geht einher mit gegenseitiger Abneigung, die den verblichenen O’Brien auf eine Weise einschließt, die Autor Blake uns - schließlich liegt hier das Mordmotiv - vorenthält, während die Masken in Dower House allmählich fallen. Man hasst nun offen und spart nicht mit giftigen Kommentaren, die zumindest bei der inzwischen anwesenden Polizei auf allzu fruchtbaren Boden fallen.
Zwar stellt Blake die offiziell ermittelnden Superintendent Bleakley und Scotland-Yard-Chief-Inspector Blount nicht als Trottel dar; nichtsdestotrotz sind sie als Beamte allzu sehr Regeln und Konventionen unterworfen und dadurch dem unkonventionellen, bahnfrei denkenden Strangeways unterlegen, was in vielen genretypischen Szenen mündet, in denen Bleakley und Blount rätseln = sich irren („Sie ist natürlich … eine Frau … und somit eine potenzielle Vergifterin.“ [S. 213]) und Strangeways ‚unauffällig‘ die Ermittlungsarbeit übernimmt.
Hinzu kommt ein zeitbedingtes Problem: „Der Superintendent schien ... ziemlich nervös zu sein. Er kannte sich mit der feinen Gesellschaft nicht aus, hatten sich seine beruflichen Aktivitäten doch bislang hauptsächlich auf Wilderer, kleine Diebe, Trunkenbolde und auf Abwege geratene Kraftfahrer beschränkt.“ (S. 83) Englands Gesellschaftsordnung ist in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg eher ein Kastenwesen. Die Polizei mag für die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung verantwortlich sein, doch dies hat sie gefälligst störendfrei und außerhalb der ‚vornehmen‘ Kreise zu erledigen, zu denen primär der Adel sowie - mit deutlichen Abstrichen - inzwischen auch neureiche Fabrikanten, Gelehrte u. a. bedingt „gentlemanlike“ Zeitgenossen gehören: „Lady Marlinworth empfing Nigel mit beherrschter Freude. Zu Superintendent Bleakley, den sie auf der Stelle als den niederen Ständen zugehörig, aber dennoch als durchaus ehrenwert eingeschätzt hatte, sprach sie mit säuselnder Herablassung.“ (S. 250)
Wanderer zwischen den Welten
Mit Nigel Strangeways (schon der Nachname ist ein Hinweis auf die ausgeübte Profession) folgt Blake dem bewährten Vorbild zahlreicher Krimi-Schriftsteller und charakterisiert ihn als Außenseiter mit Stallgeruch, was eigentlich paradox, aber in England erforderlich ist.
Einerseits ist Strangeways ein junger Mann mit offenem Welthorizont, was ihn befähigt, ausgetretene Gedankenpfade und Handlungsmuster zu vermeiden. Blake nutzt dies für die genretypische Final-Überraschung: Als der Täter endgültig festzustehen scheint und sämtliche Beweise gegen ihn (oder sie) in Stein gemeißelt sind, wirft Strangeways die Indizien und Schlüsse über den Haufen und sortiert sie neu - so überzeugend, dass wir ebenso verdattert (und entzückt) wie seine Zuhörer sind (Allerdings müssen wir uns nicht ärgern: Auf diese Lösung wären wir nie gekommen, auch wenn Blake uns fair alle Hinweise gezeigt hat).
Strangeways ist andererseits gesellschaftlich privilegiert. Er hat nicht nur eine Elite-Universität in Oxford besucht (und sein Studium abgeschlossen), sondern zählt zu seiner Verwandtschaft Mitglieder des Hochadels. Als Tüpfelchen auf dem I ist sein Onkel der Polizeipräsident von London und seinem Neffen zugetan, weshalb dieser sich auf Unterstützung von amtlicher Seite verlassen kann. Wie ein Fisch ist Strangeways in sämtlichen sozialen Gewässern schwimmtauglich, während Bleakley und Blount untergehen und irgendwann aus dem Geschehen verschwinden, damit Strangeways den üblichen Alleingang des genialen Ermittlers unternehmen kann.
Fazit
Rundum gelungener Rätselkrimi aus der Hochzeit dieses Genres. Inhaltlich wie formal bietet er dessen Liebhabern den gewünschten Lektüregenuss, d. h. einen durchaus komplexen, wendungsreichen Krimi-Plot und die beliebten Klischee-Figuren einer „typisch britischen Gesellschaft“.
Nicholas Blake, Klett-Cotta
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