Die Totenfrau von Edinburgh
- Goldmann
- Erschienen: Dezember 2020
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Originalausgabe erschienen unter dem Titel „The Darker Arts“
- London : Orion Fiction/The Orion Publishing Group Ltd. 2019
- München : Goldmann Verlag 21.12.2020. Übersetzung: Peter Beyer. 570 S., TB
ISBN-13: 978-3-442-49111-7
- München : Goldmann Verlag Januar 2021 [eBook]. Übersetzung: Peter Beyer. 2,07 MB. ISBN-13: 978-3-6412-6327-0
- Bd. 5 [Frey & McGray]
Gier, Geisterspuk & Massenmord
Im Herbst des Jahres 1889 wird die schottische Hauptstadt Edinburgh durch einen Skandal erschüttert (und entzückt): In der Villa von Colonel Grenville, standesgemäß gelegen im vornehmen Viertel Morningside, werden der Hausherr und fünf seiner Familienmitglieder tot aufgefunden. Ihre Gesichter sind verzerrt, aber die Körper weisen keinerlei Anzeichen von Gewalt auf.
Ebenfalls anwesend ist die Wahrsagerin „Madame Katerina“. Sie sollte eine Séance abhalten und den Geist der vor einigen Jahren verstorbenen „Grannie Alice“ heraufbeschwören, dem die anwesenden Nachfahren eine bestimmte Auskunft entlocken wollten. Katerina ist ohnmächtig, aber sie lebt - und wird prompt als Hauptverdächtige verhaftet. Ihre Chancen vor Gericht stehen schlecht, denn die frommen (bzw. scheinheiligen) Schotten verabscheuen jegliches Hexenwerk.
In ihrer Not wendet sich Katerina an einen alten Freund: Inspector Adolphus McGray kennt und schätzt sie, und anders als sein Kollege Ian Frey glaubt er fest an das Übernatürliche - und an Katerinas Unschuld. Die Indizien sprechen allerdings gegen sie, und Staatsanwalt Pratt, der die Anklage vertritt, hat ein Hühnchen mit McGray zu rupfen, weshalb er Katerina unbedingt an den Galgen bringen will.
Im Wettlauf mit dem Henker versuchen die beiden Polizisten den Fall zu klären. Wie kamen die sechs Opfer zu Tode? Wieso fand die Séance statt? Die überlebenden Familienmitglieder geben Unwissen vor, können aber nicht verbergen, dass es ein altes, düsteres Geheimnis gibt, das nie gesühntes Unrecht, kapitalen Betrug und womöglich einen verborgenen Schatz umfasst …
Du bist, wer du bist - und wir haben das Sagen!
Zum fünften Mal werden Adolphus McGray und Ian Frey in einen Kriminalfall verwickelt, der sogar noch stärker auf ein übersinnliches Gleis gerät als die Vorgängerbände. Diese Drift ist beim Leserpublikum beliebt, und sie wirkt plausibel, wenn solches Garn wie hier im Schottland des Jahres 1889 spielt. Das viktorianische Zeitalter ist eine Wegscheide zwischen Aberglaube und Fortschritt, wobei der Norden der Insel letzterem hinterherhinkt; so lästerten jedenfalls die Zeitgenossen, die sich als ‚echte‘ Engländer den halbwilden Kelten überlegen fühlten.
Ian Frey ist als ‚Ausländer‘ nicht frei von solchen Gedanken, auch wenn er bereits einige Jahre in Edinburgh verbracht, das Umland bereist und vor allem mit Adolphus McGray zusammengearbeitet hat. Dass seine Vorurteile unterhaltsamen Bestand haben, sichert Autor Oscar de Muriel mit kräftig übertriebenen Absonderlichkeiten einer Vergangenheit, die den Lesern der Jetztzeit jene wohligen Schauer über die Rücken treibt, die durch eine sichere Entfernung zum beschriebenen Grauen möglich werden.
Dazu gehört auch die Nutzung sogar realer Missstände, ohne die der historische (Kriminal-)Roman nicht existieren könnte: Im Edinburgh des späten 19. Jahrhunderts kann höllische Unterstützung als Eventualität erwogen werden und hier eine Frau, die sich mit entsprechenden Praktiken auskennt, an den Galgen bringen. Katerina ist nicht nur eine „Hexe“, sondern auch eine „Zigeunerin“; damit bedient sie gleich zwei zeitgenössische Diskriminierungskriterien.
Familienhölle & Gemeinschaftsgrauen
Bigotterie und Heuchelei bilden eine weitere Bank des Historienromans. Gestern hat man Katerina noch um Rat gefragt und ihren Draht nach drüben gern summen lassen, heute will sich kein Kunde mehr mit ihr in Verbindung bringen lassen oder gar für ihren Leumund bürgen. Die Tatsachen spielen keine Rolle. Sie werden ohnehin zum Spielball für Juristen, die ohnehin davon überzeugt sind, dass schuldig ist, wer vor Gericht steht, eine Presse, die im buchstäblichen Kampf um jede Schlagzeile jede moralische Grenze ignoriert, lügt und verdreht und dazu beiträgt, eine Bevölkerung aufzupeitschen, die sich gern in einen Mob verwandelt, um in einer ansonsten obrigkeitlich kontrollierten Alltagswelt endlich einmal Dampf ablassen zu können.
Obwohl die Oberschicht fest zusammensteht, wenn es gilt, Sozialreformen zu verhindern und die „niederen Stände“ als Reservoir für billige Arbeiter und Diener am Boden zu halten, müssen sich ihre Mitglieder doch vorsehen. Für sie gilt die Pflicht, sich vorbildlich zu verhalten und jeglichen Skandal zu vermeiden. Wer dem nicht genügen kann, wird ausgeschlossen - ein Schicksal, das mit dem gesellschaftlichen Aus gleichzusetzen ist und nicht nur den Verursacher, sondern auch die Familie trifft: Fehlverhalten gilt als Kollektivschuld. Darin spiegelt sich ein Weltbild wider, das nur Strafe, aber keine Wiedergutmachung kennt.
Die Nachfahren der Grannie Alice entpuppen sich hinter der sorgfältig gepflegten Fassade als wahres Schlangengezücht. Nicht einmal im Tod entrinnen sie einander; die verhängnisvolle Séance war ein verzweifelter Versuch, der verstorbenen Ahnin ein lukratives Geheimnis zu entreißen. Sowohl der Ruf als auch der Reichtum der Familie sind Behauptungen. Insofern ist es nur gerecht, dass der Tod einige der schlimmsten Widerlinge ereilt. Sie legen sich dabei die Schlingen in ihrer Gier selbst um die Hälse und erfüllen den letzten, nicht mehr realisierten Wunsch der schon zu Lebzeiten zu Recht wütenden Alice - ein auch in der Erklärung scheinbaren Spuks gelungener Twist, mit dem de Muriel wenigstens schicksalhafte Gerechtigkeit walten lassen kann.
In herzlicher Abneigung verbunden
Im fünften Band dieser Serie sind die Hauptfiguren fixiert. Tatsächlich macht sich ein gewisser Leerlauf breit: Zum x-ten Mal durchlebt McGray die Erinnerung an jene Nacht, als seine Schwester überschnappte, die Eltern niedermetzelte und ihm einen Finger abschnitt. Frey fremdelt weiterhin mit den Schotten und findet dabei leicht Bestätigung, zumal ihn McGray wie üblich bloßstellt und ärgert. Die einzige ‚neue‘ Figur ist Madame Katerina, die in erster Linie dem drohenden Unrecht in Gestalt eines vorurteilsgeprägten Schuldspruchs ein Gesicht geben soll. Dabei hütet de Muriel sich vor plakativem Gutmenschentum: Katerina mag als Massenmörderin unschuldig sein sowie diskriminiert werden, aber eine Betrügerin ist sie dennoch.
Der fiese Staatsanwalt Pratt ist dagegen das pure Klischee. Mit blinkendem Goldzahn grinst er schäbig ins Geschehen und beugt das Recht mit einer Wucht, die man auch der Justiz des 19. Jahrhunderts so nicht zubilligen möchte. Hier wird (zu) deutlich, dass de Muriel offenbar jährlich eine Fortsetzung seiner Serie vorzulegen hat, weshalb er auf Routinen zurückgreift und zurückgreifen muss.
Schon angedeutet hat sich in der dritten Folge ein bandübergreifender Handlungsbogen: De Muriel siedelt hinter den Kulissen der Macht einen uralten Hexenzirkel an. In einem Epilog enthüllt de Muriel, dass niemand Geringere als Queen Victoria hinter diesem Zirkel steckt; der frühe Tod ihres geliebten Gatten Albert hat sie süchtig nach dessen Botschaften aus dem Jenseits werden lassen. Da McGray und Frey den Zirkel zerstört haben, verfallen sie ahnungslos dem Zorn ihrer Königin, die buchstäblich ihre Köpfe fördert; hier werden Handlungsweichen für die kommenden Bände gestellt.
Fazit
Ihr fünfter Fall führt die Polizeibeamten McGray und Frey erneut tief in die Schatten der schottischen Metropole Edinburgh. Sie müssen gegen Vorurteile, eine parteiische Justiz und Vertuschung kämpfen und geraten dabei in Gefahr, ihren Fall oder sogar das nackte Leben zu verlieren: routinierte, aber lesenswerte Variation bekannter Elemente.
Oscar de Muriel, Goldmann
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