Der Dämon von Vermont

  • Tropen
  • Erschienen: September 2020
  • 1

- OT: Le Tricylce Rouge

- aus dem Französischen von Monika Köpfer

- Broschur, 448 Seiten

Der Dämon von Vermont
Der Dämon von Vermont
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Michael Drewniok
85°1001

Krimi-Couch Rezension vonOkt 2020

Wahnsinnige ‚Gerechtigkeit‘ unterläuft korrupte ‚Justiz‘

Vor fünf Jahren endete die Jagd auf den „Dämon von Vermont“, einen ebenso grässlich mordenden wie diabolisch schlauen Serienkiller, für Profiler Noah Wallace in einer Tragödie: Der Täter entführte seine Gattin, und während der daraus resultierenden Verfolgungsjagd kam es zu einem Unfall, bei dem der Mörder und sein Opfer starben, während Wallace schwer verletzt überlebte.

Seitdem ist Wallace körperlich und geistig versehrt. Seinen Job als Berater der Vermont State Police musste er aufgeben. Nur mühsam hat er sich ins Leben zurückgekämpft, doch seine endgültige Gesundung wird in Frage gestellt, als jenseits der US-Grenze in Kanada eine Mordserie beginnt, die bis in die grausigen Details den Taten des „Dämons“ gleicht.

An der Seite seines ehemaligen Kollegen und Freundes Steve Raymond, der für die Major Crime Unit der Vermont State Police arbeitet, kehrt Wallace in den Dienst zurück. Für die Sureté du Québec bearbeitet Inspecteur Bernard Tremblay die ‚neuen‘ Morde. Er misstraut Wallace, den er für allzu angeschlagen hält. Außerdem schickt der Killer Wallace nach jedem Mord Briefe, in denen er kryptisch ein ungesühntes Verbrechen andeutet, das angeblich nicht nur ihn, sondern auch Wallace betrifft.

Andernorts recherchiert die junge Journalistin und Bloggerin Sophie Lavallée im Fall des 1977 verschwundenen Reporters und Privatdetektivs Edgar Trout. Was zunächst ein interessantes Rätsel ist, wird buchstäblich toxisch, denn sämtliche Zeitzeugen, die Lavallée befragt, sterben eines gewaltsamen Todes. Rasch gerät auch sie ins Visier einer Gruppe, die sämtliche Nachforschungen mörderisch unterbinden will. Lavallée muss die Flucht ergreifen, weshalb es dauert, bis die Überschneidungen zu jener Mordserie offenbar werden, die von Wallace untersucht wird …

Wahn und Realität münden in Mord

Als eines seiner literarischen Vorbilder nennt Debüt-Autor Vincent Hauuy Stephen King. Dass dies mehr als das übliche Phrasendreschen im Rahmen der Werbung ist, wird den erfreuten Lesern rasch klar: Hauuy meint, was er sagt, und er gibt sich alle Mühe, King dort zu erreichen, wo dieser noch heute beachtliche Gipfelpräsenz besitzt. Eine solide Story wird geschickt und spannend erzählt sowie mit Figuren besetzt, die mehr als Platzhalter mit behaupteten Charaktereigenschaften sind.

Womöglich schießt Hauuy über das Ziel hinaus. Nichtsdestotrotz ist ihm zumindest mit Noah Wallace eine Figur gelungen, die trotz oder gerade wegen einer schier endlosen Liste persönlicher Probleme Interesse weckt. Wallace geht buchstäblich am Stock; in seinem Hirn wuchert ein Tumor, der ihn - vielleicht - hellsichtig macht. Darüber hinaus leidet er an einem Gedächtnisverlust, der seine gesamte Jugend ausgelöscht hat, die sich freilich quälend mit Erinnerungsblitzen und Visionen meldet, wenn es gerade besonders ungünstig ist, weil ein Killer es auf Wallace anlegt.

Was eigentlich vorgeht, wird vom Verfasser nach gut gelungener Verwirrung der Leser nach und nach sowie im Rahmen eines hochdramatischen Finales aufgeklärt, während das ohnehin beachtliche Tempo stetig anzieht. Das ist auch deshalb wichtig, weil man den Logiksektor lieber abschalten sollte, während Hauuy ein wüstes Komplott irrer Wissenschaftler und Politiker entwirft, die oktopusgleich die US-Justiz und ihre Ordnungshüter im Griff halten, um einerseits eine Art ‚Supermensch‘ zu erschaffen, während andererseits niederste Triebe befriedigt werden sollen. Hier lässt es der Autor richtig krachen, hält aber die Balance auf der schmalen Schneide zwischen Dramatik und Lächerlichkeit.

Der Mann, der sowohl nichts als auch zu viel wusste

Der Purist dürfte sich über einen Protagonisten ärgern, der weniger recherchiert, sondern von Hirnspuk beflügelt wird. Es ehrt den Verfasser, dass sich dies trotzdem in ein Geschehen fügt, dass oft eher Horror als Psycho-Thriller ist. Der böse Gegner scheint allgegenwärtig und übermächtig zu sein, während die ebenso hartnäckigen wie (nur scheinbar) hoffnungslos unterlegenen ‚Guten‘ ungeachtet aller Attacken und Verletzungen der Auflösung entgegenstreben.

Dabei geht es niemals zimperlich zu, obwohl Hauuy „Torture-Porn“-Plattitüden weitgehend meidet; grausige Metzeleien an der Grenze zum Overkill bleiben indirekt geschildert. Den Autor interessiert die Nachwirkungen solcher Taten stärker als die plumpe Darstellung, wodurch er außerdem der Gefahr entrinnt, sich durch Übertreibung lächerlich zu machen; eine Falle, in die viel zu viele Autoren offenbar freiwillig tappen.

Die allmähliche Enthüllung einer Figur, die selbst und anfänglich ahnungslos in die Ereignisse verstrickt ist, stellt kein Plot-Novum dar, funktioniert aber, wenn ein nicht unbedingt wortgewaltiger, aber handwerklich geschickter Verfasser die Fäden führt. Hauuy greift nachdrücklich auf seine Erfahrungen als ‚Drehbuchautor‘ für Videospiele zurück. Die enorme Geschwindigkeit einer Handlung, deren hasenflinke Wendungshaken eher der Spannung als der Glaubwürdigkeit geschuldet sind, bildet selbst dann ein stabiles Gegengewicht, wenn des Lesers Irritationen gegen Ende exponentiell zunehmen.

Wie wird das enden - und weitergehen?

Der Dämon von Vermont läuft lange auf zwei voneinander getrennten Ebenen ab: Hauuy stellt dem mysteriösen, womöglich verdächtigen Wallace die taffe, jedoch von der Situation überforderte Bloggerin Sophie Lavallée gegenüber, die ihrerseits diverse Puzzlestücke findet, aus denen in der Auflösung das Gesamtbild eines monströsen Komplotts zusammengesetzt wird. In diesem Handlungsstrang schimmert das Gerüst manchmal zu deutlich durch. Lavallée ist (zu) neugierig, erregt gefährlich Aufmerksamkeit, muss flüchten, gerät mehrfach in Lebensgefahr und erfüllt noch weitere Bedingungen, die ihre Figur für eine spätere Verfilmung tauglich machen (erwähnt, aber lieber unkommentiert sei auch die klapperdürre, geniale, exzentrische Clémence Leduc, die sich aus heiterem Himmel in den verstörten Wallace verguckt und ihm dies auch gemächthandgreiflich demonstriert).

Die Figurenzahl ist beachtlich - aber das muss auch so sein, denn der Bodycount ist gewaltig. Selbst schilderungsaufwändig eingeführte (Haupt-)Personen dürfen sich nie sicher fühlen; plötzlich nimmt sie der Autor gewaltreich aus dem Geschehen. Da sich viele Figuren quasi im Chor als Mitglieder der Verschwörung outen, ist es nur der Existenz einer dritten Gruppe zu verdanken, dass Wallace und Lavallée es bis ins Finale schaffen.

Völlig verrückte, aber schlaue Killer sind realiter glücklicherweise Ausnahmegestalten, während der Thriller auf sie baut und sich die Fiktion verselbstständigt. Also findet hier ein Rachefeldzug überlebender Komplott-Opfer statt, die genretypisch viel Mühe in möglichst aufsehenerregende Bluttaten investieren; kein Wunder, dass diese Rache sich hinzieht, wenn man sie so umständlich angeht (was primär einen ketzerischen Gedanken dieses Rezensenten in Worte fasst)! Nichtsdestotrotz sorgt Vincent Hauuy für frischen Wind im Thriller-Genre - und sei es ‚nur‘ dadurch, dass er Handwerk und Effekt im Gleichgewicht zu halten vermag. Sein Publikum hat er jedenfalls gefunden; Wallace (und Leduc) wurden bereits in einen neuen Fall verwickelt.

Fazit

Nicht gerade feingestrickter, aber turbulenter, dabei erfreulich spannender und mit überraschenden Wendungen nicht geizender Thriller. Die Logik bleibt ebenso wenig ungeschoren wie die Hauptfiguren, doch der Schwung bügelt entsprechende Fragezeichen glatt: Autor Hauuy beweist, wie ‚Action‘ unterhaltsam verpackt werden kann (und sollte)!

Der Dämon von Vermont

Vincent Hauuy, Tropen

Der Dämon von Vermont

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