OCEAN - Insel des Grauens
- Knaur
- Erschienen: Dezember 2020
- 2
- OT: Crooked River
- aus dem Englischen von Frauke Czwikla
- Bd. 19
- HC, 448 Seiten
Grausige Gaben des Meeres
Captiva Island vor der Südwestküste des US-Staates Florida gilt als Geheimtipp für Muschelsammler: Eine besondere Strömung treibt Schalen quasi gezielt an den der offenen See zugewandten Strand. Aktuell gibt das Meer freilich ein Treibgut frei, das für Entsetzen und helle Aufregung sorgt: Zu Dutzenden werden blaugrüne Arbeitsschuhe angespült - und in jedem steckt ein grob abgehackter Menschenfuß!
Dies ist ein Fall für den exzentrischen, aber genialen und mit dem Mysteriösen vertrauten FBI-Agenten Aloysius Pendergast! Zusammen mit seinem Mündel Constance Greene macht er sich an die Sichtung der Indizien. Die sind spärlich, denn außer den Füßen können nur die Schuhe untersucht werden. Woher kommen sie? Dank moderner Forschungen sind immerhin digitale Modelle möglich, die auf den Strömungsverhältnissen der Meeresregion vor Florida basieren.
Allerdings erschweren Kompetenzrangeleien die Ermittlungen: Das normalerweise allmächtige FBI ist jenseits der Küste faktisch machtlos. Hier hat die Küstenwache das Sagen, und sie pocht in diesem Fall auf ihre Befehlshoheit. Natürlich geht Pendergast daraufhin erst recht eigene Wege und wendet sich an zwei Wissenschaftler, die in der Erforschung der Meeresströmungen einen radikal neuen Ansatz verfolgen.
Dies zahlt sich in doppelter Hinsicht aus: Während die Küstenwache sich aufgrund falscher Daten erfolglos blamiert, kommt Pendergast den Füßen auf die Spur. Allerdings weckt sein Erfolg die Aufmerksamkeit einer Gruppe, die insgeheim und ohne Skrupel eine angeblich vor Jahrzehnten aufgegebene Geheimwaffe weiterentwickelt - und vor der Ausschaltung eines FBI-Agenten keineswegs zurückschreckt …
Aus Quietschen wird Schreien
1992 sorgte ein schwerer Sturm dafür, dass die „Ever Laurel“, ein Frachtschiff, im Nordpazifik eines Containers verlustig ging. Sein Inhalt bestand aus ca. 30.000 Plastikspielzeugen in Tierform, wobei gelbe Quietsche-Enten buchstäblich ins Auge stachen. Was normalerweise als Müll seinen Beitrag zur globalen Verschmutzung der Ozeane dargestellt hätte, wurde unfreiwillig Bestandteil eines Forschungsprojekts - denn die Plastiktiere markierten den Verlauf der Meeresströmungen; man fand sie in den nächsten anderthalb Jahrzehnten an zum Teil viele tausend Kilometer vom Unglücksort entfernten Stränden, wo sie sorgfältig registriert und die Gesamtlisten ausgewertet wurden.
Douglas Preston und Lincoln Child wurden nicht als erste Schriftsteller durch diese Odyssee der „Friendly Floatees“ inspiriert. Sie lassen allerdings nicht buntes Spielzeug, sondern Menschenfüße durch das Meer treiben, und erinnern damit wiederum an ein ungelöstes Grusel-Mysterium: In der kanadischen Provinz British Columbia wurden seit 2007 mehr als ein Dutzend Laufschuhe an den Atlantikstrand geworfen, in denen Füße steckten. Für das routinierte Autorenduo, das seit 1995 jährlich mindestens einen Thriller vorlegt, in dem sich kriminelles Treiben und scheinbar übernatürliches Wirken mischen, bot eine Kombination der beiden Phänomene das Fundament, um den ebenso genialen wie exzentrischen FBI-Agenten Aloysius Pendergast auf seine aktuelle Mission zu schicken.
„Routine“ ist das Wort, das eine objektive Beurteilung dieses 19. Romans der Pendergast-Serie prägen sollte: Längst haben Preston & Child den Versuch aufgegeben, ihre in vielen Bänden bewährten Muster aufzubrechen. Es ist paradox: Obwohl diese Serie vorgeblich die Grenzen der Realität testet und manchmal sogar überschreitet, geschieht dies ohne Originalität. Ideen beschränken sich auf die Gestaltung von Rätseln, die sich final rational auflösen - dies buchstäblich, da sich plötzlich platt entpuppt, was zuvor aufwändig in Szene gesetzt wurde.
Von Wunder zu Plunder
Preston & Child funktionieren als Produzenten erfolgreicher Mysterythriller so reibungslos, wie jeder Verlag es sich nur wünschen kann! Auch Ocean - Insel des Grauens (der deutsche Titel ist übrigens wieder einmal sinnbefreit, da sich des Rätsels Lösung weder auf hoher See, noch auf einem Eiland verbirgt) läuft geschmeidig über gut geschmierte Schienen. Die erste Hälfte ist dem Mysterium gewidmet, das kundig aufgebaut (bzw. aufgebauscht) wird: Hier macht die Lektüre Spaß, obwohl zumindest Kenner des Autorenduos sicher sind, dass Teil 2 - die Auflösung - damit nicht Schritt halten kann.
Das trifft zu, wobei sich die Entrüstung über solches Blendwerk im 19. Band der Serie selbst bei diesem Rezensenten in Grenzen hält: Preston & Child sind keine innovativen Autoren, sondern ein „Branding“, das für möglichst massenkompatible Mysterythriller steht - und die werden garantiert vorgelegt: simpel, aber sauber gefertigt. Naturwissenschaft und Technik werden so eingeflochten, dass sie Spannung erzeugen und den real langen Weg von der Theorie zur Praxistauglichkeit unterhaltungsförderlich überspringen.
Anders ausgedrückt: Die Pendergast-Serie ist ein Spitzenprodukt der aktuellen Trivialkultur. Das ist keinesfalls abwertend oder gönnerhaft gemeint: Preston & Child liefern, was sie versprechen. Dass die Erklärung dafür, wieso Füße als Strandgut auftauchen, letztlich recht mau ausfällt, kann man ihnen nur bedingt zum Vorwurf machen. Wurde bisher kombiniert und getüftelt, bestimmen nunmehr Waffen meist schweren Kalibers das Geschehen, während gar nicht (mehr) rätselhafte Schurken im Rudel durchlöchert zu Boden sinken.
Handlungsträger ohne Saft & Kraft
Ist ungeachtet der Akzeptanz der Tatsache, dass Preston & Child gekonnt die übliche Trivialkost liefern, eine Klage gestattet? Sie zielt auf eine Figurenzeichnung, die mit der Handlungsroutine nicht Schritt halten kann. Auch wenn die Ereignisse vor allem im zweiten Teil krude Haken schlagen und die Logik abhängen, behalten die Autoren in dieser Hinsicht das Heft in den Schreibhänden.
Die Figuren sind demgegenüber schwach - und das ist noch freundlich ausgedrückt, wenn uns Preston & Child mit flüchtig getuschten Gestalten wie dem irren Patrioten und seinem soziopathischen Stellvertreter (plus sadistischem Dr. Frankenstein und einer schönen Bös-Frau) oder dem malerisch vertierten Drogenboss konfrontieren, denen sämtlich der Drang gemeinsam ist, vor einer Übeltat ausgiebig zu reden, damit man als Leser ihr Treiben in den Handlungsfluss einsortieren kann.
Allerdings ist Aloysius Pendergast selbst nur ein Stereotyp: Man mag ihn und seine Idiosynkrasien nicht und möchte ihn nicht bewundern, wenn er Klischee-Amtsträger u. a. ‚Respektspersonen‘ düpiert, die ihn, der alles (über sie) weiß und privat stinkreich ist, nicht ausschalten können. Faktisch gerät Pendergast nie in echte Gefahr, und zu allem Überfluss wird er weiterhin begleitet von seinem ‚Mündel‘ Constance, für die es wieder keine echte Verwendung als handlungstragende Figur gibt. Preston & Child basteln ihr ein (kümmerliches) Sub-Rätsel (Constance löst das Enigma eines angeblichen Spukhauses), bevor sie ihr (und uns Lesern) im Finale einen Auftritt als absolut unglaubhafter Racheengel zumuten. (Noch überflüssiger als Constance ist Schmieren-Journalist Smithback, der dem Plot nicht einmal nahekommt.)
So kann und wird sich die Serie fortsetzen. Es gibt ein Publikum für Abenteuer, das unterhaltsam, aber nicht aufregend bzw. unkonventionell sein darf. Solche Leser sind die dankbaren Abnehmer nach Schema F gedrechselter Thriller à la Ocean; sie können wieder zugreifen, ohne böse Überraschungen fürchten zu müssen. Ebenfalls willkommen sind Wieder-Leser wie dieser Rezensent, der die letzten fünf Bände der Serie ausgelassen hat, aber keinerlei Schwierigkeiten hatte, Anschluss zu finden.
Fazit
Band 19 der Pendergast-Serie mischt wie üblich Geheimnis und Spannung zu einem latent science-lastigen Thriller, der wie ein Uhrwerk abläuft. Die Auflösung hält dem gut geschürten Rätsel nicht stand, die Figuren sind umrissschwach. Weil die Autoren ihr Handwerk verstehen, sorgt die Lektüre für jenen Spaß, den auch eine schon (zu) lange laufende TV-Serie verbreiten kann.
Douglas Preston & Lincoln Child, Knaur
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