Nur Heringe haben eine Seele - Geständnis eines Serienmörders: Der Fall Pleil

  • Droemer
  • Erschienen: November 2020
  • 1

- HC, 320 Seiten

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Sabine Bongenberg
80°1001

Krimi-Couch Rezension vonDez 2020

Spannendes Psychogramm mit zu viel Täterperspektive

Es war in den Wirren der Nachkriegszeit nicht unüblich, dass Menschen plötzlich verschwanden. Dafür gab es viele Gründe: Einige gingen einfach dahin, wo es besser war, andere stürzten in Gruben und wurden nie wieder gefunden, sie traten auf vergessene Minen und wurden zerfetzt, oder fielen „Totmachern“ in die Hände. Als ein solcher bezeichnet sich der 23jährige Rudolf Pleil, als er sich aus der Haftanstalt Celle um den Posten eines Henkers bewirbt. Er führt aus, dass er besondere Kenntnisse in diesem Beruf habe, seien seine Opfer doch noch in verschiedenen Sektoren verscharrt. Anfangs will ihm niemand glauben – aber dann gehen einige Polizisten doch Pleils Aussagen nach und erfahren Schreckliches: Er hat die Wahrheit gesagt. In der Folge sprudeln die Geständnisse nur so aus dem bereits verurteilten Totschläger heraus, und in einem neuen Prozess wird er bei elf weiteren Morden schuldig gesprochen; es ist aber durchaus davon auszugehen, dass weit mehr Verbrechen auf seine Rechnung gehen. Pleil begeht 1958 Selbstmord und hinterlässt mehrere Hefte, in denen er seine Taten emotions- und gewissenlos schildert. Der freie Autor und Journalist Fred Sellin lässt ihn hier seine Geschichte erzählen ...

Die „Banalität des Bösen“

Wer sich die – leider recht zerstückelten – Fotos auf dem Umschlag des Buches einmal genauer ansieht, kann es kaum fassen: Da blickt ein pummeliger Mann mit Bürstenhaarschnitt und runder Brille nicht unfreundlich in die Kamera und zumindest mir ging es so, dass ich eingangs kaum glauben wollte, dass es sich bei dem Abgebildeten tatsächlich um einen Serienmörder handeln sollte. Die „Banalität des Bösen“, die die Philosophin Hannah Arendt seinerzeit dem Massenmörder Adolph Eichmann zusprach, kommt auch hier wieder zum Zuge. Es ist auch tatsächliche ein recht banaler Antrieb, der Rudolf Pleil in erster Linie steuert: Es geht um seine Trieberfüllung, um sein recht bequemes Überleben – sei es, dass er im kalten Nachkriegswinter sogar Schulkindern die Mäntelchen klaute, dem kleinen Pflegesohn nichts von dem Essen abgab, das er als Kellner zusätzlich erhielt, oder eben Frauen erschlug, die Sterbenden vergewaltigte und sich anschließend natürlich ihren Besitz aneignete, denn sie brauchen ihn ja schließlich nicht mehr. Pleil gehört meiner Einschätzung nach zu denen, die für ein paar Euro ohne jedes Bedenken das eigene Kind in die Sklaverei verhökert hätten.

Fred Sellin, der als Redakteur bei verschiedenen Zeitung arbeitete, sichtete Pleils eigene Aufzeichnungen, die dieser in verschiedenen Schulheften hinterließ, und lässt den Mörder in der Ich-Form aus seinem Leben berichten. Neben der absoluten Gewissenlosigkeit, der kalten Abschätzigkeit und der reinen Triebbefriedigung, die aus seinen Worten spricht, sucht Sellin auch Erklärungsansätze: So wird Pleils Kindheit geschildert, wo der stadtbekannt alkoholabhängige Vater die Familie dazu zwang, ihren Lebensunterhalt durch Schmuggel sicherzustellen, die Verstrickungen in der Nazizeit und der frühe Umgang mit rauen Männern, die sicher auch zu seiner Verrohung beitrugen. Pleil erlebte eine kurze glückliche Zeit bei der Seefahrt, ehe ihm wegen seiner Diebereien, aber vor allem wegen seiner durch den starken Alkoholkonsum erheblich befeuerten epileptischen Anfälle, dieser Beruf verwehrt wurde. Der Zwangssterilisation des dritten Reiches entging er nur knapp.

Starke Fokussierung auf den Täter

Der Autor hat die Ausdrucksweise Pleils in jedem Fall im Hinblick auf die Rechschreibung und Grammatik überarbeitet, mit Sicherheit wurde auch ein großer Teil seiner menschenverachtenden Aussagen umgeschrieben. Das, was übrig bleibt ist aber noch deutlich genug, lässt den Leser bei der Lektüre oft schlucken und offenbart eine tiefe Gefühlskälte:

„Die ganzen Weiber, alles Zufälle, kann man sagen. Wäre die eine nicht auf der Bildfläche erschienen, wär’s ne andere gewesen, die Pech gehabt hätte. Aber sind ja genug von da.“

Zur weiteren Erklärung seiner Taten fügte Sellin Auszüge aus Gerichtsakten oder Ermittlungsergebnisse der Polizei ein, die zumindest ein wenig über das Leben und Schicksal seiner Opfer beleuchten. Hier sind wir aber auch bei dem, was mir an diesem grundsätzlich fesselnden Buch am wenigsten gefällt: Der Leser erfährt sehr wenig über die Menschen, die der Täter ermordete, und damit wird meiner Meinung nach seine Rolle überhöht. Wer jetzt noch liest, wie eitel, selbstgefällig und aufmerksamkeitsgierend dieser Mann im Prozess auftrat und sich den Fotografen gerne mit gockelhaftem Stolz präsentierte, der fragt sich, ob ihm hiermit nicht ein zu starkes „Denkmal“ gesetzt und die Distanz zu diesem Täter nicht ein wenig aus den Augen verloren wurde. Ich habe den Verdacht, dass Pleil dieses Buch sehr gut gefallen würde – eine Vorstellung, die mich eher erschreckt. Gewünscht hätte ich mir auch, dass Fotos beigefügt worden wären, aus denen man sich ein Bild von seinen Opfern und seiner Mittäter hätte machen können.  

Fazit

Nur Heringe haben eine Seele beschreibt eine Mordserie, die geprägt wurde von der besonderen Verrohung während der Kindheit, der Jugend, durch Kriegserlebnisse und durch materielle Not – möglicherweise wurde sie aber auch von einer „krankhaften Veranlagung“ des Täters gefördert. Der Umgang mit dem kaltschnäuzigen Ton des Mörders und die schnörkellosen Schilderungen seiner Taten sind nicht immer einfach zu ertragen. Pleil und seine Komplizen entgingen übrigens nur knapp der Todesstrafe, und vielleicht ist es auch ein besonders Manko dieses Buches, dass der Leser über diesen Punkt sicherlich länger nachdenkt.



Anmerkung d. Verf.: Wer sich über den Fall Pleil noch weiter informieren möchte, dem sei dazu übrigens das Format Die großen Kriminalfälle – der Totmacher Rudolf Pleil empfohlen (mit einer kurzen Internetrecherche wird man schnell fündig). Hier bekommen auch die Opfer des Serienmörders ein Gesicht, so auch die Tochter der ermordeten Gertrud Glöde, die heute noch bei der Erinnerung an die Gerichtsverhandlung weint.

Nur Heringe haben eine Seele - Geständnis eines Serienmörders: Der Fall Pleil

Fred Sellin, Droemer

Nur Heringe haben eine Seele - Geständnis eines Serienmörders: Der Fall Pleil

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