Wenn Schweigen tötet
- Edition M
- Erschienen: Januar 2021
- 1
- OT: What lies between us
- aus dem Englischen von Tanja Lampa
- TB, 428 Seiten
Besessenheit und Boshaftigkeit, die sich als Liebe tarnen
Es soll Eltern geben, die ihre Kinder regelrecht an sich ketten. Manchmal soll es auch Kinder geben, die ihren Eltern ähnliches antun. Es dürfte allerdings recht selten sein, dass Familienangehörige im wahrsten Sinne des Wortes einander im Haus anketten - wenn es auch nicht von der Hand zu weisen ist. Vermutlich gibt es dafür auch Gründe: Zum Beispiel wenn der oder die in Ketten Gelegte etwas Unaussprechliches getan hat und es verdient, bestraft zu werden. Oder wenn man diese Person einfach zu sehr liebt, um sie gehen zu lassen. Oder auch wenn sie etwas weiß, dass sonst keiner erfahren sollte. Es gibt viele Möglichkeiten, vielleicht sogar Rechtfertigungen – und jede einzelne von ihnen könnte auch einfach nur falsch oder boshaft sein.
John Marrs zeigt in seinem neuen Buch Wenn Schweigen tötet, wie die beiden Frauen Maggie und Nina ihr gemeinsames Leben aufgebaut haben. Eine hat die andere eingesperrt, und auch wenn der Leser dieser Tat anfangs noch mit blankem Unverständnis gegenübersteht, dauert es nicht lange, bis er diese Maßnahme nachvollziehen kann und möglicherweise der Meinung ist, dass sie eigentlich noch viel zu gut ist. Damit beginnt eine nervenzerreißende und –zerfetzende Geschichte um ein Drama, das sich über einen Zeitraum von rund zwanzig Jahren erstreckt und sämtliche Spielarten zwischen falsch verstandener Mutterliebe, Lüge, Betrug Kindsmissbrauch und –misshandlung mit sich bringt. Marrs bringt den Leser geschickt in die eine Richtung, lässt ihn fast zu der Einsicht kommen, dass die Geschichte damit erzählt ist (wenn auch unklar ist, warum noch so viele Seiten zu lesen sind), und stellt seine Geschichte einmal komplett auf den Kopf.
“Ich ging sein Handy durch und las seine Emails, wie es die meisten Eltern tun…“
Eine besondere Leistung des Autors ist, dass er es schafft, innerhalb des einen Hauses und der einen Geschichte zwei dennoch voneinander getrennte Leben zu konstruieren. Beide Frauen erzählen aus der Ich-Perspektive, und zunächst richtet sich der Fokus auf das Leben Ninas, der offensichtlich übel mitgespielt wurde – und deren Handlungen mehr als nachvollziehbar sind. Lange scheint sie nur das tragische Opfer der Gegebenheiten und der Kontrollsucht der Anderen zu sein, wenn auch kleine kaltherzige Bosheiten den Leser ein wenig stutzig machen. Mit dem verstärkten Fokus auf die zweite Frau wird aber auch klar, dass offensichtlich Gründe für deren Handlungen bestanden und nicht alles das ist, wonach es eingangs ausgesehen hat. Die beiden Welten zwischen Mutter und Tochter scheinen sich grundsätzlich zu berühren, bilden sie doch fast eine quälende Lebensgemeinschaft. Tatsächlich haben sie aber nicht viel miteinander zu tun, sind doch die von Lügen und Geheimnissen gezogenen Gräben mittlerweile zu tief geworden, um sie noch zu überwinden. Ein weiterer Faktor, der den Leser regelrecht foltert, sind die ständigen Grenzüberschreitungen, die mit „Mutterliebe“ oder „Fürsorge“ rechtfertigt und als vollkommen „normal“ dargestellt werden – und es hoffentlich nicht sind.
“Wäre es meine Barbara gewesen, hätte ich vielleicht dasselbe getan.“
Ein einzelner Kritikpunkt an der Handlung, der bei mir ein paar Fragen aufwarf, ist nur der, dass es wohl Mitwisser und „Ohrenzeugen“ gab, die aber offensichtlich nichts unternahmen, um ihren Verdacht zu bestätigen oder zu zerstreuen. Hier stellte ich mir dann doch die Frage, ob Freunde oder Familie sich tatsächlich über Jahre hinweg mit Ausreden abspeisen lassen. Manchmal fragte ich mich auch, ob die Liebe zwischen Eltern und Kind tatsächlich dazu führen kann, jede Untat zu vertuschen oder einem anderen in die Schuhe zu schieben.
Fazit
Mit Wenn Schweigen tötet ist John Marrs ein grandioser, nervenzerrender Krimi über Skrupellosigkeit und Boshaftigkeit gelungen, die mit hilfloser Liebe und dem „Helfenwollen“ eine unheilvolle Allianz eingehen und in ungeahnte Katastrophen führen. Wer aus dieser fesselnden Lektüre wieder auftaucht, sieht sich möglicherweise seine Familie noch einmal in Ruhe an und freut sich daran, dass diese – mit all ihren Fehlern und Schwächen, die Familien nun einmal auszeichnen – sicherlich nicht so weit geht, ihre Mitglieder in Ketten zu legen.
John Marrs, Edition M
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