Ich bin der Sturm
- Emons
- Erschienen: September 2020
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- HC, 272 Seiten
Eine spannende Jagd nach dem Ursprung eines Verbrechens – dennoch mit ein paar Ungereimtheiten
Madonna kann sich kaum noch an die Zeiten erinnern, zu denen es mal anders war. Die vielen Misshandlungen, die Vergewaltigungen, die Schmerzen - aber immer wird sie am nächsten Tag wieder hochgepäppelt, der Arzt behandelt ihre Verletzungen, es gibt nur Gesundes zu essen und alsbald kann sie ihren „Dienst“ wieder antreten. Madonna ist – wie verschiedene andere Mädchen auch – eine Gefangene. Sie ist mit ihren Leidensgenossinnen eingesperrt, und ständig werden sie einer zahlungskräftigen Klientel zugeführt, die sich offensichtlich ALLES leisten kann. Wenn einer mal übertreibt, Schwamm drüber – der Körper wird dann schon irgendwo entsorgt. Aber Madonna hat einen Plan: Sie will hier raus, sie will wissen, wo sie herkommt und was mit ihrem Leben passiert ist. Und vor allem: Wo ist ihr Freund geblieben, der sie offenbar sehenden Auges in diese Hölle geschickt hat?
Eiskalter, temporeicher Thriller
Michaela Kastel lässt in ihrem Buch die geschundene Madonna in der Ich-Form selbst erzählen. Sie berichtet von einem Leben voller Qualen: Gemeinsam mit anderen Frauen wird sie in einem kerkerähnlichen Keller gefangen gehalten, vergewaltigt und misshandelt – aber immer wieder sorgfältig aufgepäppelt, um alsbald der nächsten Klientel wieder als willfähriges Folteropfer zur Verfügung zu stehen. Hier bildeten sich bei mir aber auch schon die ersten Fragezeichen, denn auch wenn Spritzen und Tabletten sicherlich Schmerzen lindern können, so ist es doch kaum möglich, die Spuren ausdauernder Folter so zu vertuschen, dass eine misshandelte Frau wie gerade vom Catwalk kommend auszusehen vermag. Als irritierend empfand ich auch einige weitere Aspekte in der Geschichte - so zum Beispiel, wie es einem Kind gelingt, in einer Kombination aus Disco und Laufhaus Unterschlupf zu finden und hier über Jahre hinweg zu bleiben, ohne dass auch nur irgendeine Behörde auf den Plan gerufen wird.
Die Stärke des Romans liegt in der kalt geplanten Flucht der Heldin, die sie aus dem Gefängnis und über viele Windungen zu den Erinnerungen an ihr altes Leben führt. Madonna darf auf dieser Flucht nicht zimperlich sein, und das macht sie manchmal nicht gerade sympathisch – aber glaubhaft. Sie ist eine Person mit Ecken und Kanten, genau wie diejenigen, die sie auf dem Weg trifft und die ihr Steine in den Weg legen oder aber versuchen, ihr zu helfen. Michaela Kastel hat einen spannenden und temporeichen Thriller geschaffen, bei dem ich nur ein Problem mit dem Ausmaß des Verbrechens hatte. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es Institutionen gibt, die gut aufgestellte und ausgestattete Bordelle mit versklavten Frauen unterhalten, die von einer Klientel mit viel Kleingeld nach Bedarf ge- und verbraucht werden, ohne dass auch einer der „Kunden“ sich unpassend mit seiner „speziellen Club-Mitgliedschaft“ brüstet oder einem weiteren Opfer die Flucht gelingt.
Wer sich von solchen Gedanken nicht beeinflussen lässt, der wird von dem atemberaubenden Buch über Madonnas Flucht, ihre Suche nach ihrer Geschichte und dem gemeinsamen Weg mit neuen Verbündeten sicher noch einmal mehr gefesselt sein. Aber selbst wer meine Skepsis teilt, der kann diese spannende Lektüre nur schwerlich aus der Hand legen. Madonna lernt auf ihrer Flucht vieles über sich selbst, über ihre Geschichte und auch über die Ursprünge des „Folterhauses“; sie erfährt vieles über Boshaftigkeiten und Habgier – aber auch über Liebe und Freundschaft. Letztendlich sind es diese beiden Punkte, die die stärksten Motive und Beweggründe bilden und die Handlung des Buches noch einmal besonders machen.
Fazit
Ich bin der Sturm nimmt den Leser mit auf eine bewegte Reise, die die Erzählerin aus ihrer Rolle als reines Opfer zu einer eigenständigen Person führt. Nicht alles war für mich logisch oder glaubhaft – aber das soll Fiktion ja nun auch zugebilligt sein. Im Endergebnis ist die Lektüre aber so aufbrausend wie der Titel, und dieser Sturm vermag einem manchmal fast den Atem zu nehmen.
Michaela Kastel, Emons
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