Die verlorene Frau
- Heyne
- Erschienen: Mai 2020
- 1
Carola Fischer (Übersetzung)
Feinsinniger Spannungsroman um ein unglaubliches Familiengeheimnis
Über ein Jahr nach ihrem Romandebüt „Das Haus der Verlassenen“ legt die englische Schriftstellerin Emily Gunnis mit „Die verlorene Frau“ nach.
Beides sind sogenannte „Stand Alones“, also keine Bücher, die einer Reihe angehören – und doch haben die Romane jede Menge gemeinsam. Typisch für Emily Gunnis sind zwei Dinge: Erstens hat sie ein Faible für Familiengeschichten, die sich an gesellschaftlichen Tabus früherer Zeiten orientieren. Und zum Zweiten ist sie eine Meisterin des bildhaften Schreibens.
Die Autorin bietet Kopfkino pur
Hauptschauplatz in ihrem aktuellen Buch ist Seaview Cottage, ein kleines malerisches Häuschen mit einer bewegten Vergangenheit am Strand in der englischen Grafschaft Sussex. Man schmeckt das Salz auf den Lippen beim Lesen förmlich, und man hört das Tosen der Wellen, so anschaulich beschreibt die Autorin die Szenerie. Die beste Grundlage für Kopfkino vom Feinsten.
Die Geschichte pendelt zwischen der Zeit des Zweiten Weltkriegs und den frühen 50er Jahren sowie dem Jahr 2014 hin und her. Das sorgt nicht nur für Abwechslung, sondern verhilft dem Leser auch dazu, die vermeintlich losen Enden, die er zu Beginn des Buchs zahlreich in den Händen hält, miteinander zu verflechten.
Charakterstarke Frauen über Generationen hinweg
Charakterstarke Frauen sind eine weitere Spezialität von Emily Gunnis. Hier sind es die Frauen dreier Generationen, die sich ihrem Schicksal stellen – so unterschiedlich die jeweilige Zeit und ihre Umstände auch sein mögen. Im Mittelpunkt steht die Kinderärztin Rebecca, die als 13-Jährige den Mord an ihrer Mutter mitansehen musste.
Als wäre das nicht schon eine kaum zu ertragende Bürde, stößt sie mithilfe ihrer beiden Töchter auf ein unfassbares Familiengeheimnis. Allen Frauen ist eines gemein: Sie sind keine toughen Heldinnen im Superwoman-Kostüm, die spielend leicht ihr Leben meistern, sondern sie haben Ecken und Kanten, sie hadern, sie zweifeln, sie stellen vieles infrage. Das macht sie so sympathisch und lebensecht.
Das Grauen der Nervenheilanstalten
Ein Gutteil des Romans befasst sich mit der Behandlung psychisch kranker Menschen in der Nachkriegszeit. Damals wurden Elektroschocks als probates Mittel zur Linderung von Depressionen eingesetzt und man sprach von „Kriegstrauma“ statt von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Zudem war es erschreckend einfach für Ehemänner, die ihrer Gattinnen überdrüssig geworden waren, diese in eine Nervenheilanstalt einweisen zu lassen.
Fazit:
„Die verlorene Frau“ bietet auf 384 Seiten packendes Lesevergnügen und kommt vollständig ohne Längen aus. Emily Gunnis schreibt wunderbar – und auch, wenn es sich bei diesem Buch nicht um einen Thriller im eigentlichen Sinne handelt, ist es ebenso spannend, dem Familiengeheimnis auf die Spur zu kommen wie dabei mitzufiebern, ob die verlorene Frau in Gestalt von Rebeccas ältester Tochter Jessie mit ihrem neugeborenen Baby gefunden wird, bevor es zu spät ist. Für eingefleischte Fans bluttriefenden Horrors ist „Die verlorene Frau“ nichts. Dafür bietet Emily Gunnis in ihrem aktuellen Roman jede Menge feinsinnigen Thrill.
Emily Gunnis, Heyne
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