Die Tote im Hafenbecken
- Heyne
- Erschienen: Juli 2020
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Originalausgabe = dt. Erstausgabe
- Gütersloh : S. Mohn Verlag 1960. 191 S.
- München : Heyne Verlag 1981. ISBN-10: 3-453-10548-6. 142 S.
- München : Apex Verlag 2019. ISBN-13: 978-3-7485-4434-0. 156 Seiten
- München : Apex Verlag [eBook]: Mai 2019. ISBN-13: 978-3-7452-0899-3. 0,75 MB [ePUB]
Nasses Grab für ein gefallenes Mädchen
Helga Wieberitz gilt im April des Jahres 1959 trotz ihrer 25 Jahre noch als „Mädchen“, denn sie ist unverheiratet. Andererseits hat sie die Laufbahn einer Hafendirne eingeschlagen, was ihr zu Erfahrungen verhalf, die in der jungen Bundesrepublik unter den Deckmantel der Nacht gekehrt werden.
Für Helga und ihre ‚Kolleginnen‘ ist der Hamburger Hafen und das nahe Vergnügungsviertel St. Pauli der ideale Arbeitsplatz. In der Regel trifft man sich abends auf Kundenfang in der „Tampico-Bar“. Dort schließt sich Helga an ihrem letzten Lebenstag einer kleinen Gruppe Seemänner an, die an Bord ihres Schiffes eine ‚Party‘ feiern möchten.
Drei Monate später zieht man Helgas Leiche aus dem Hafenwasser. Sie wurde umgebracht, eine Stahlwinde sollte den Körper auf dem Grund halten, was jedoch missglückte. Der Fall geht an Kommissar Bohde, der sich mit seinen Assistenten Achsmann und Schadow an die Klärung begibt: systematisch, ausdrücklich pedantisch und ganz nach Dienstvorschrift, aber ergänzt durch die Erfahrung vieler Dienstjahre.
Bohde und sein Team rekonstruieren Helgas Todestag. In diesem Milieu ist die Polizei nicht gerade beliebt, weshalb es wichtig ist zu wissen, wie man möglicherweise verdächtige Personen befragt: Wer sie falsch bzw. zu grob angeht, wird belogen, sanfter Druck dagegen sogar erwartet. Name um Name, Indiz für Indiz tragen die Beamten zusammen, bis sich das Tat-Bild samt Mörder vervollständigt …
Bleibe ruhig, Bundesbürger: Wir kriegen sie!
In der Urzeit des deutschen Fernsehens gab es nur zwei Programme, weshalb die dort ausgestrahlten Sendungen ein Publikum fanden, das in dieser Kopfstärke heute Stoff für Produzententräume ist; aus dieser Ära stammt der Begriff „Straßenfeger“. Der Serie „Stahlnetz“ wurde er gerecht. Zwischen 1958 und 1968 entstanden für den NDR 22 Episoden, die zu TV-Klassikern wurden. Von Wolfgang Menge (1924-2012) geschrieben und von Jürgen Roland (1925-2007) inszeniert, mögen sie aus heutiger Sicht betulich sein, können aber aufgrund guter Drehbücher, sorgfältiger Machart und ausgezeichneter Darsteller weiterhin unterhalten. (Als konzeptionelles Vorbild diente übrigens die US-amerikanische Serie „Dragnet“.)
„Die Tote im Hafenbecken“ wurde Ende August 1958 als Episode 4 ausgestrahlt. 1960 arbeitete Menge vier seiner „Stahlnetz“-Drehbücher zu Romanen um. „Die Tote …“ erschien als Band 2. Da die frühen Episoden keine 50 Minuten liefen, blieb der Buchumfang schmal, zumal Menge darauf achtete, jenen Aspekt beizubehalten, die an dieser Serie geschätzt wurden: Die Darstellung konzentrierte sich auf den jeweiligen ‚Fall‘. Zwischenmenschliches wurde dort berücksichtigt, wo er für das Geschehen wichtig war. Seifenschaum blieb ungeschlagen, die Handlung besaß (und benötigte) keine Seitentriebe, die anders als heute den roten Faden ‚psychologisch‘ erklärten = überwuchern und ersticken. Am Ende stand die für die Zuschauer = Staatsbürger beruhigende Gewissheit, dass in der Bundesrepublik Deutschland jeder Strolch gefasst und ins Gefängnis gesteckt wurde.
Nüchterne Prägnanz zeichnet auch „Die Tote im Hafenbecken“ aus. Dabei wäre die Gelegenheit günstig für eine moralische (bzw. moralinsaure) ‚Botschaft‘ gewesen, denn die Geschichte spielt im damals legendärsten Rotlicht-Milieu überhaupt: im Hafenviertel von Hamburg, wo - so jedenfalls die von den Medien und selbsternannten Tugendwächtern gern verbreitete Mär - nach Einbruch der Dunkelheit Betrunkene, moralarme Matrosen und „Dirnen‘ die düsteren Gassen und Spelunken bevölkerten.
Im Visier deutscher Beamter
„Dieser Fall ist wahr! Er wurde aufgezeichnet nach den Unterlagen der Kriminalpolizei ... Nur Namen von Personen, Plätzen und die Daten wurden geändert, um Unschuldige und Zeugen zu schützen.“ Diese Sätze waren jeder „Stahlnetz“-Folge vorangestellt. Sie legten die Richtung des Geschehens fest; man hielt sich inhaltlich wie formal streng an die Vorgabe, die eine sachliche, quasi dokumentarische Darstellung forderte. Wie sich zeigte, muss die Unterhaltung in keiner Weise darunter leiden, wenn sich hinter und vor der Kamera fähige Personen der Sache annehmen.
Menge erspart sich (und uns) deshalb jene (nicht nur) zeitgenössisch beliebte ‚Huren-Romantik‘, die den lesenden Spießer durch einschlägig-schmuddelige ‚Andeutung‘ schamlosen Tuns in angenehme Erregung versetzte. Zwar ist seine ‚Erklärung‘ dafür, wieso Helga Wieberitz zur Prostituierten wurde, nicht gerade plausibel, doch Menge klammert wie gesagt schwülstig-verlogene ‚Tragik‘ aus und schildert glaubhaft ein trostloses Leben, das ohne Glanz, aber auch ohne ‚göttliche‘ Strafe ein brutales Ende findet. Der Schrecken resultiert aus der Tatsache, dass Menge belegt, wie alltäglich dieser Mord ist: Die Ordnungsmacht mag dem Verbrechen organisatorisch gewachsen sein, kann und wird es aber nicht ausrotten.
Damit die Leser nicht gar zu sehr fremdeln, wird ihnen eine ausdrücklich nicht heldenhafte Schar verbeamteter Polizisten vorgestellt. Man mag es „typisch deutsch“ nennen, aber Menge und Roland wollten „Stahlnetz“ ausdrücklich von einem US-Vorbild abgrenzen, das Ermittler häufig im Alleingang und womöglich gegen die Dienstvorschrift vorgehen ließ, wobei die Waffen pausenarm sprachen.
Unterbezahlt, aber unerbittlich
Folgerichtig gibt es kein Action-Finale, in dessen Verlauf der Täter ‚gestellt‘ bzw. erle(di)gt wird. Stattdessen versammelt Menge Polizei und Verdächtige nach einer akribisch (aber nicht detailverliebt) geschilderten Ermittlung, die sich über mehrere europäische Länder erstreckt, nach dem Vorbild des klassischen Rätselkrimis, um Kommissar Bohde die Indizien zur Ablaufgeschichte zusammensetzen zu lassen. Die Aufklärung verläuft wie die Ermittlung betont unspektakulär, und der Täter ist zwar ein Mörder, aber auch ein armes Würstchen, das nie eine echte Chance hatte zu entkommen.
Dieser Bohde ist eine denkbar langweilige Figur - und das soll er auch sein! Bohde ist wie Achsmann und Schadow der zeitgenössisch vorbildliche Staatsdiener: Arbeitsam, bescheiden, aber in der Sache unerbittlich und unempfindlich gegen langwierige und langweilige Lauf- und Verhörarbeit treibt Bohde den Fall voran, bis er ihn geklärt zu den Akten legen kann. Die jungen = ungeduldigen Mitarbeiter hält er streng, aber gerecht an der kurzen Leine, um sie auf diese Weise ebenfalls zu reibungslos laufenden Rädchen des Apparats zu schleifen.
Der wenige Jahre zurückliegende Zweite Weltkrieg hat die drei Polizisten auf unterschiedliche Weisen geprägt und vor allem Achsmann aus der (deutschen) Spur geworfen; seine Probleme mit vorgesetzlicher Autorität gehören zu den wenigen (aber interessanten) Abweichungen, die Menge sich jenseits des Falls gestattet. Das letzte Wort bleibt Bohde, der seinen faszinierten Kollegen enthüllt, wie er den Täter entlarvt hat: nicht nach einem zündenden Geistesblitz, sondern aufgrund gründlicher, geniefreier Beobachtung, aus der sich konsequent die Schlussfolgerung ergab. Dieser Fall ist abgehakt; geduldig wird man sich an den nächsten begeben und auch ihn klären: So macht man das in Deutschland!
Fazit:
Die Romanfassung einer Episode der deutschen Krimi-Serie „Stahlnetz“ übernimmt den nüchternen Duktus und die quasi-dokumentarische Darstellung der TV-Vorlage. Gerade die Konzentration auf die Ermittlungsarbeit sorgt im Bund mit dem Verzicht auf ranzig gewordenen Gefühlsdusel dafür, dass dieser Krimi trotz seines geradezu anachronistischen Inhalts erstaunlich lesbar geblieben ist.
Wolfgang Menge, Heyne
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