Aufzeichnungen eines Serienmörders
- Cass
- Erschienen: Februar 2020
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Serienmörder haben es schwer
Der 70-jährige Tierarzt Byongsu Kim ist „pensionierter“ Serienmörder. Er verbringt seine Zeit damit, Klassiker zu lesen und Gedichte zu schreiben. Kurz nachdem er in seinem Viertel einem Mann begegnet, den er als seinesgleichen erkennt, wird bei ihm beginnende Demenz diagnostiziert. Um seine Tochter zu beschützen, plant der alte Mann, mit seinem schwindenden Gedächtnis kämpfend, einen letzten Mord.
Kampf gegen das Vergessen
Kim ist - was das Morden betrifft - ein unverbesserlicher Perfektionist. Das ist auch der Grund, warum er ein Tagebuch führt. Darin hat er früher auch penibel seine Morde aufgezeichnet - oder besser gesagt: seine Empfindungen dabei, und ganz besonders seine Fehler. Die wollte er nämlich zukünftig vermeiden. Bei jedem Opfer, das er begrub, hoffte er, beim nächsten Mal besser zu werden. Doch als er diese Hoffnung nicht mehr hatte, gab er auch das Morden auf. Seinen bis dato letzten Mord hat Kim vor 25 Jahren begangen. Eigentlich ist das auch besser so, denn der pensionierte Tierarzt leidet zunehmend unter Alzheimer-Demenz.
Serienmörder treibt sein Unwesen
Als plötzlich eine Mordserie die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt, fragt sich Kim unweigerlich, ob er vielleicht der Täter sei und das nur vergessen habe. Doch als der alternde „Ex-Mörder“ bei einem Auffahrunfall Jutae Park kennenlernt, sagt ihm sein Instinkt sofort, dass er den wahren Täter gefunden hat. Eigentlich kann Kim das vollkommen egal sein, solange es seiner Adoptivtochter Unhi, die bei ihm lebt und ihn umsorgt, gut geht. Doch dann stellt sie Kim ihren heimlichen Verlobten vor - und das ist ausgerechnet Jutae Park. Kim will alles daran setzen, seine Tochter zu beschützen. Dafür muss er sich erst wieder körperlich fit machen - aber seine geistige Kraft lässt gleichzeitig immer mehr nach.
Neuentdeckung aus Korea
Der 52-jährige Young-ha Kim gilt als einer der talentiertesten koreanischen Schriftsteller seiner Generation. Er erhielt alle bedeutenden Literaturpreise seines Landes, seine Romane, Erzählungen und Essays wurden in zahlreichen Sprachen übersetzt. Kim lebte zeitweise in Kanada, den USA und Italien und arbeitete als Übersetzer. Die „Aufzeichnungen eines Serienmörders“ erschienen im Original bereits 2013 und waren ein absoluter Bestseller. Bis 2017 wurden in Korea über 200.000 Exemplare verkauft. Den Film sahen über zweieinhalb Millionen Zuschauer in den Kinos. Nun veröffentlicht der relativ unbekannte Cass Verlag, der sich vor allem der Vermittlung herausragender japanischer Belletristik und Kriminalliteratur widmet, das kleine Meisterwerk erstmalig in Deutschland.
Absurdität und Unvereinbarkeit
Kims „tödlicher“ Antrieb war nicht wie bei anderen Mördern sexuelle Perversion oder einfach nur Mordlust. Nein, es war einfach Enttäuschung und gleichzeitig die Hoffnung auf eine höhere, vollkommene Lust. Nun sieht er sich zum ersten Mal in seinem Leben gezwungen, aus reiner Notwendigkeit heraus an Mord zu denken: „Meine letzte Lebensaufgabe steht fest. Ich muss Jutae Park umbringen. Bevor ich vergesse, wer er ist.“ Alleine dieser Satz spiegelt den Inhalt und Stil des Romans wieder: Mord als wichtigste Bestimmung im Leben eines Menschen und gleichzeitig der vergebliche Kampf gegen eine Krankheit, die einem alles nimmt. Weil aber beides nicht zusammen zu gehören scheint, wirkt vieles im Roman vollkommen absurd, zynisch, makaber und doch auch voller Witz und Emotion.
Poetischer Killer
Kim ist aber nicht nur wegen seiner speziellen Motivation ein ganz besonderer Mörder. Er ist ein Schöngeist, ein Literat, ein Poet, der es liebt Nietzsche zu zitieren, Montaignes „Essais“ zu lesen, über die griechische Mythologie nachzudenken oder den ganzen Tag Beethovens 5. Klavierkonzert zu hören. Auch schreibt er selber Gedichte, besucht sogar einen Lyrikkurs und schreibt vollkommen offen über das, womit er sich auskennt: den Ablauf seiner Morde. Sein Dozent lobt die poetische Ausdrucksweise von Kims erstem Gedicht „Messer und Knochen“ als erfrischend. Die rohe Sprache und seine Imaginationen des Todes würden ein scharfes Bild von der Nichtigkeit des Lebens zeichnen. Es sind Textstellen wie diese, die - voller Ironie und hintersinnigem Witz - Young-Ha Kims einmalige Schreibkunst verdeutlichen. Der Autor kennt keine Tabus, wird aber niemals banal oder gar platt.
Lebensweg eines Mörders
Früh übt sich, wer ein Mörder sein will: Bereits mit 16 Jahren tötet Kim mit Unterstützung seiner Mutter und der 13-jährigen Schwester seinen gewalttätigen Vater. Auch an der Tatsache, dass seine Adoptivtochter Unhi eine Waise ist, ist der mordende Tierarzt nicht ganz unschuldig. Fast schon melancholisch resümiert er: „Ich habe mehr Menschen am Leben gelassen, als ich umgebracht habe.“ Tja, man kann halt nicht alles haben. Nun muss er aber erkennen, dass sein Leben - nicht nur als Mörder - bald ein Ende hat. Er kann lediglich mit Notizen und Voicerekorder-Aufnahmen seine Erinnerungen an die aktuellen Geschehnisse erhalten. Und die Zeit läuft ihm allmählich davon.
Fazit:
Young-Ha Kim gelingt ein großartiges, tiefsinniges, komisches und doch auch tragisches Buch. Einen ganz besonderen Clou hebt er sich für den Schluss auf. Kims Sprache ist voller Poesie und dennoch klar, wenngleich oftmals sehr verdichtet. Der Tagebuchcharakter verleiht dem Roman einen hohen Grad an Authentizität, wodurch auch Kims Demenzerkrankung zusätzlich verdeutlicht wird. Kims große Stärke ist sein schwarzer Humor, der dennoch sehr feinsinnig ist und aus der Sicht des Mörders gleichzeitig so ernst gemeint erscheint. Der Autor sprengt die Ketten eines klassischen Kriminalromans. Aus der Sicht eines an Alzheimer Erkrankten erzählt er eine Geschichte, die ohne Pathos auskommt, urkomisch ist und dennoch nachdenklich stimmt. Ein genrebildender Geniestreich.
Young-ha Kim, Cass
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