Blutblume

  • Europaverlag
  • Erschienen: August 2019
  • 4

Ulrike Brauns (Übersetzung)

Blutblume
Blutblume
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Almut Oetjen
77°1001

Krimi-Couch Rezension vonFeb 2020

Ein Leben als Albtraum, in den der Tod hineinwirkt

Die 25-jährige Sara zieht nach Stockholm, wo sie sich nach Militärzeit und Studium eine eigenständige Existenz aufbauen will. In einem heruntergekommenen Haus mietet sie ein teures möbliertes Zimmer mit Toilette auf dem Gang. Es geschehen seltsame Dinge. Sara hört in einer Nacht vom Flur aus Stimmen in ihrem Zimmer. In einer anderen Nacht wacht sie auf, nachdem sie zwei starke Schlaftabletten genommen hatte, und sieht ein Feuer vor dem Fenster.

Sie weiß nicht, ob diese Dinge tatsächlich geschehen, Einbildung sind, oder ob sie sie träumt. Aber diese vielen, für sich genommen vielleicht unbedeutenden Kleinigkeiten, häufen sich zu einer konsistenten Bedrohung ihres Selbst und destabilisieren ihre Wahrnehmung.

Sara arbeitet als Küchenhilfe und Kellnerin, bis ihr überraschend Bella, die Mitarbeiterin einer PR-Agentur, einen Job anbietet. Sie verdient erheblich mehr und zieht zu Bella in deren Luxuswohnung. Sie ist verzückt und irritiert zugleich, als sie in eine für sie neue Welt eintritt, die ihr beruflichen Erfolg verheißt. Ihr Leben wird zunehmend durch Bella bestimmt, die ihr eine neue Persona verpasst.

In Saras Hinterkopf schwingt immer die Frage mit, warum gerade sie so viel Glück haben soll. Sie entwickelt Angstgefühle und eine gesteigerte Vorsicht. 

Aufbruch in ein neues Leben

Sara ist auf der Suche nach einem Platz im Leben, ohne diesen beschreiben zu können. Sie reagiert auf Umwelteinflüsse, versteht diese lange Zeit als unveränderliche Bedingung ihrer Existenz, weshalb sie folgerichtig von Bella sozial verpflanzt, anschließend ihrer neuen Umgebung und deren Rahmenbedingungen angepasst, insgesamt kontrolliert wird. Das bleibt natürlich nicht durchgehend so, sonst würde der Roman als Thriller nicht funktionieren. Bella hingegen scheint ein klares Ziel vor Augen zu haben, für sich wie für Sara, das sie aber nicht offenlegt. Eine Zielorientierung entwickelt Sara erst später, worauf auch der Reihentitel „Widerstandstrilogie“ hindeuten könnte.

Man muss keine aufmerksame Leserin sein, um bereits bei der ersten Begegnung der beiden Frauen davon auszugehen, dass ihre Beziehung nicht nur den Horrortrip Saras rahmen, sondern fundamental mitbestimmen wird. Die Geschichte, die mit diesen Geschehnissen erst ihren Anfang nimmt, ist eine persönliche Erzählung Saras, die uns immer wieder in das Innenleben der Hauptfigur führt. Sara hat nach ihrem mit Bestnote abgeschlossenen Studium der Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre keinen ihrer Qualifikation entsprechenden Arbeitsplatz gefunden. Die damit einhergehenden Frustrationen sind nicht ihr einziges Problem. Sie ist schwer traumatisiert als Opfer eines Verbrechens, und weil ihr Vater, der in der Entwicklungshilfe gearbeitet hat, einen fragwürdigen Unfalltod starb. Das erklärt Saras Freude über den in Aussicht stehenden Neustart mit Bella, ihre Ängste und Unsicherheiten, schließlich ihre einen Schwebezustand zwischen Wahn und Wirklichkeit erzeugenden Erlebnisse.

Gefangen im Netz aus Politik und Korruption

Saras Leben und das, was ihr an Beunruhigendem widerfährt, ist Ergebnis politischer Entscheidungen und Verhältnisse, von denen sie im ersten Band so gut wie nichts weiß und die nur auf der Andeutungsebene aufscheinen. Das geschieht durch kleinere Handlungsmomente, zunehmend aber durch Dossiers mit Zeitungsartikeln, die Sara im Nachlass ihres Vaters findet. Es existieren, wie langsam offenbar wird, Verbindungen zwischen Saras Gegenwart und dem, worum es in den Artikeln geht: die 1970er Jahre, den Verlust des naiven Vertrauens in Politik und Bürokratie nach Jahrzehnten sozialdemokratischer Herrschaft, den Beginn des Wachstums sozialer Probleme, die Korruption unter den Sozialdemokraten, die Ermordung Olof Palmes im Jahr 1986, fragwürdige Geschäfte mit der DDR und die Offenlegung einer Vielzahl an politischen Skandalen. Vieles findet sich in investigativen journalistischen Arbeiten aus den Folgejahren.

Das ist zugleich auch der offensichtlichste Bezugspunkt zum politischen schwedischen Kriminalroman, der zurückgeht auf Maj Sjöwall und Per Wahlöö, die in den Jahren 1965 bis 1975 gemeinsam die aus zehn Romanen bestehende Serie „Roman über ein Verbrechen“ veröffentlicht haben, bekannter unter dem Namen der Hauptfigur Martin Beck aus der Mordkommission der schwedischen Reichspolizei. Ein zweiter wichtiger und unverkennbarer Einfluss ist Stieg Larssons Millennium-Trilogie.

Ab dem zweiten Band, dessen deutsche Fassung unter dem Titel „Scheintod“ für Ende Januar 2020 angekündigt ist, bekommt die Vergangenheit vermutlich eine zunehmende Bedeutung in der Aufklärung des Mysteriums um Sara. Der private, auch intimere Zugang Saras zu diesen Themen ist zumindest in „Blutblume“ von größerer Bedeutung.

Der Roman erzählt zwar von Ereignissen aus Gegenwart und Vergangenheit, handelt aber vor allem von Menschen, die sich im Bezugsfeld dieser Ereignisse befinden. Manche der Figuren haben brutale und grausame Geheimnisse.

Fazit:

Louise Boije af Gennäs schickt in “Blutblume”, dem ersten Band der “Widerstandstrilogie”, ihre traumatisierte und intelligente Protagonistin Sara in einen gefährlichen Albtraum. Sie präsentiert ein aktuelles Zeitbild Stockholms, bis hin zu angesagten Clubs und Restaurants sowie sozialen Problemen, und nimmt sich viel Zeit für die Charakterisierung der Figuren. Das Netz aus Politik, Korruption und Verbrechen entwickelt sie derweil langsam und bedrohlich im Hintergrund.

Blutblume

Louise Boije af Gennäs, Europaverlag

Blutblume

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