Das Dorf der toten Seelen
- HarperCollins
- Erschienen: April 2020
- 13
Nina Hoyer (Übersetzung)
Das einzig Gruselige war die 60 Jahre alte Fischkonserve
Die Schwedin Camilla Sten legt mit „Das Dorf der toten Seelen“ ihr Thriller-Debüt vor. Per definitionem sollte bei einem Thriller die Spannung nicht nur in einzelnen Szenen vorhanden sein, sondern die gesamte Handlung beherrschen. Das ist hier wirklich nicht der Fall.
Ein verlassenes Städtchen dient als Kulisse
Silvertjärn war eine kleine Stadt im schwedischen Nirgendwo, die durch Bergbau florierte und zweifelhaften Ruf erlangte, als 1959 sämtliche Bewohner auf ungeklärte Weise verschwanden. Lediglich ein Säugling und eine, auf grausame Weise zu Tode gekommene, Frau wurden gefunden. 60 Jahre später macht sich ein Trupp junger Filmschaffender auf, um einen Dokumentarfilm rund um diese Vorkommnisse zu drehen. Ein seit so langer Zeit verlassener Ort sollte allein schon eine dramatische Kulisse für einen Film bilden, mit einer solchen Geschichte im Hintergrund erst recht.
Doch was dann kommt, erstaunt den wachsamen Leser schon enorm. Es stehen noch Tassen auf den Tischen, die Haustüren sind nur angelehnt, Wäsche hängt auf der Leine… Anscheinend ist seit 60 Jahren niemand in die Stadt gekommen, nicht einmal Neugierige, die es doch gegeben haben müsste, keine Andenkenjäger, Plünderer oder auch nur ein Sturm, der die Wäsche weggerissen hätte. Sogar Fischkonserven finden sich in einem Küchenschrank – und zwar nicht kugelrund aufgequollen, sondern wie neu und scheinbar auch noch essbar, denn sie rufen nach gierigem Verzehr nicht die geringsten Magenprobleme hervor.
Da krankt der Plot doch sehr an Glaubwürdigkeit. Auch der Verbleib der ganzen Gemeinde, immerhin rund 900 Personen, scheint nur geringfügig untersucht worden zu sein. Keiner hat im Bergwerk nach ihnen geforscht oder im nahegelegenen See getaucht. Ging ja auch nicht – hätte doch dann nicht zum Geschehen 2019 gepasst. Oh Logik, wo bist du hin? So eine Geschichte zu lesen tut regelrecht weh - und Spannung kommt keine auf.
Spannung verspricht nur der Klappentext
Der Klappentext sollte ein Appetizer sein und den potentiellen Leser neugierig auf das Buch machen. Das ist hier gelungen, spricht er doch von „seltsamen Dingen“, die dem Filmteam passieren, einem Toten und er stellt die Frage „werden sie diesen grausamen Ort lebend verlassen?“. Doch sobald man die Lektüre beginnt, ist der Dampf schon raus. Bis ungefähr zur Hälfte des Buches passiert so gut wie nichts Aufregendes. Ständige Wiederholungen, zu lange Beschreibung von Nebensächlichkeiten und Erwähnung von Lappalien schleppen die Geschichte dahin. Als dann endlich jemand verschwindet, weiß der Leser eigentlich schon, was dahinter steckt und kann alle anderen Bemühungen, doch noch Spannung zu erzeugen (die x-te morsche Treppe ruft nur noch ein Gähnen hervor) nur als langweilig empfinden.
Was man nach über 370 Seiten als Lösung verkraften muss, ist genauso unglaubwürdig, wie der Zustand des Ortes. Ich will nicht zu viel verraten, aber das in diesem Umfang und nach 60 Jahren ist nun wirklich unrealistisch, passt aber vom Logik-Niveau zum Rest des Buches. Das Potential der Thematik wurde bei Weitem nicht ausgeschöpft und die fehlende Plausibilität katapultiert den Leser jedes Mal kopfschüttelnd aus der Geschichte zurück in die Realität. Leider ist dazu noch dem Verlag im Klappentext ein Fehler unterlaufen: Alice hat nicht gerade erst die Filmhochschule abgeschlossen, sondern schon vor einigen Jahren, was für den Verlauf des Thrillers nicht ganz unerheblich ist.
Alice hat mehr als ein Problem
Alice erzählt das Geschehen während der Exkursion aus der Ich-Perspektive. Sie ist ganz besessen von Silvertjärn. Ihre Oma lebte hier bis kurz vor der Tragödie und hat sie mit Briefen und Erzählungen über ihre verschwundene Verwandtschaft neugierig gemacht. Doch, wie schon erwähnt, Alices Budget für die Sondierung ist knapp, das Vorhaben muss gelingen um mehr Geld zu generieren. Dazu kommen die Probleme mit Mitarbeiterin Emmy. Die beiden kennen sich noch aus dem Studium, waren beste Freundinnen, doch dann ist etwas passiert, dass sie zu Feindinnen werden ließ. Erst jetzt, Jahre später, in denen Alice weit weniger erfolgreich war als Emmy, haben sie wieder Kontakt. Alice könnte einen vielschichtigen Charakter abgeben, doch herausgekommen ist eine egoistische Person ohne Tiefgang, deren ganzes Dasein sich um Silvertjärn dreht.
Auch die anderen Teilnehmer der Exkursion sind weder sympathisch oder mehr als oberflächlich charakterisiert. Die Verknüpfungen und Verwicklungen untereinander offenbaren sich erst im Laufe der Geschichte, hauen dann aber keinen mehr vom Hocker, weil vorher keine Bindung an den Leser statt gefunden hat. Lediglich Elsa, Alices Urgroßmutter schafft es Interesse beim Leser zu wecken. Von ihr erfährt der Leser, in einem immer wieder eingebauten Handlungsstrang, was 1956 passiert ist.
Mit ihrer Person und ihren Erlebnissen lässt sie das Leben in Silvertjärn lebendig werden: Die einkehrende Armut, als die Mine schließt; der charismatische neue Pastor, der die Menschen zu verhexen scheint; die abschließende Katastrophe, die nur einen schreienden Säugling verschont. Mit den anderen Personen hat die Autorin Potential verschenkt, indem sie es versäumt hat Charaktere zu schaffen, die den Leser ansprechen, ihn in die Geschichte saugen und ihn mitfiebern lassen, wenn es schwierig wird in Silvertjärn.
Fazit:
„Das Dorf der toten Seelen“ hat viel versprochen, doch wenig gehalten. Keine Spannung, kein Grusel, keine Gänsehaut. Dafür fehlende Logik, Plausibilität und Realität. Es ist einfach ein durchschnittlicher Roman, der mit seinem anspruchslosen Stil und simplen Dialogen keinen eingefleischten Thriller-Fan umhauen dürfte.
Camilla Sten, HarperCollins
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