Der Wanderer
- Penguin
- Erschienen: September 2019
- 3
Originalausgabe erschienen unter dem Titel „Il respiro del sangue“
- Turin : Giulio Einaudi Editore 2019
- München : Penguin Verlag 2019. Übersetzung: Susanne van Volxem u. Olaf Matthias Roth. ISBN-13: 978-3-328-60025-1. 376 Seiten
- München : Random House eBook 2019 [eBook]. Übersetzung: Susanne van Volxem u. Olaf Matthias Roth. ISBN-13: 978-3-6412-2917-7. 1,93 MB [ePUB]
Wie/So starb die „narrische Erika“?
Schon vor der Jahrtausendwende schien Kreuzwirt, ein kleines, in Südtirol und im Schatten der Berge gelegenes Dorf, aus der Zeit gefallen zu sein. Hier geschieht nichts ohne das Wissen und den Willen der reichen und einflussreichen Familie Perkmann, die Kreuzwirt und seine Bewohner als ihr Eigentum betrachtet. Wer sich fügt, kann mit dem Wohlwollen = finanzieller Unterstützung rechnen, doch wer querschießt, lernt die andere Seite der Perkmanns kennen, die Störenfriede finanziell am ausgestreckten Arm verhungern und von der (gekauften) Polizei, teuren Rechtsanwälten oder skrupelfreien Journalisten bedrängen lassen.
Aktuell herrscht Karin über den Clan, dessen Familienchronik zahlreiche düstere Stellen aufweist, auf die keineswegs Fall Licht fallen soll. Das will die zwanzigjährige Sibylle ändern, die endlich ihre Familientragödie klären will: 1999 fand man ihre Mutter Erika tot im dorfnahen See. Offiziell hat sie sich umgebracht, doch das mag Sibylle nicht mehr glauben, nachdem sie mit Nachforschungen begonnen hat und prompt auf eine Mauer des Schweigens stößt.
Hilfesuchend wendet sie sich an den ehemaligen Journalisten Antonio „Tony“ Carcano, der einst über Erikas Tod geschrieben hat. Inzwischen als Schriftsteller und Ruhm und Geld gekommen, lässt sich Tony darauf ein, denn Erikas Ende hat ihn nie losgelassen, zumal die Akte allzu offensichtlich auf ‚Wunsch‘ der Perkmanns geschlossen wurde.
Das ungleiche Duo - bald verstärkt von einer Staranwältin im Ruhestand - stößt in ein Wespennest. Vor allem Sibylle muss auf die harte Tour lernen, dass man in Kreuzwirt spurt, wenn es die Perkmanns verlangen. Selbst ihre Adoptiveltern wenden sich gegen sie. Als sie trotzdem nicht nachgibt, wird der Ton rauer; körperliche Gewalt bleibt keine Drohung mehr. Ungeachtet dessen beginnen Tony und Sibylle ein wirres Geflecht aus Unrecht und Unmoral ans Licht zu zerren, bis die Situation tödlich - und womöglich übersinnlich - eskaliert …
Die Kehrseite der Medaille
Luca D’Andrea hat es vorgeblich gut: Er ist ein Liebling des Feuilletons, das seine Werke zum Nonplusultra des modernen Thrillers hochjubelt und dies möglichst lautstark über alle Medien verbreitet. „Hype“ nennt man das; kein Schimpfwort, sondern traurige Realität, die dem auf diese Weise angeschobenen Autor keineswegs nur Nutzen bringt.
D’Andrea steht am Rand einer Klippe, die sehr hoch geworden ist, was nicht unbedingt in seine Verantwortung fällt. Seine ersten beiden Thriller wurden geradezu hysterisch angepriesen, obwohl sie trotz unbestreitbarer Qualitäten eben nicht Gipfelpunkte des Genres darstellten, sondern solide Routine boten, die durch Schwächen sabotiert wurden, die der Autor offenbar nicht in den Griff bekommt.
Mit „Der Wanderer“ ist zumindest die Liebesbeziehung zwischen Autor und Publikum vorüber. Auffällig viele Leser äußern sich jedenfalls enttäuscht über diesen Roman, der ein solches Urteil einerseits verdient, während es andererseits ungerecht ist: „Der Wanderer“ ist keineswegs ‚schlechter‘ als „Der Tod so kalt“ und „Das Böse es bleibt“.
Unrecht - gut im eigenen Saft durchgeschmort
D’Andrea ist kein Plot-Hexenmeister. Seine Storys sind nicht komplex, sondern kompliziert, wobei der daraus resultierende (Schein-) Anspruch vom Verfasser behauptet wird. Um dies zu stützen, greift er in die Trickkiste und mischt ‚reales‘ Verbrechen mit angeblichen Mysterien und sogar Übersinnlichem. Diese Mischung ist keineswegs D’Andreas ureigene Entdeckung, und er rührt sie nicht annähernd so geistreich an, wie ihm nachgesagt wird.
Grundsätzlich geht es um einen ungeklärten Todesfall. Eine (genretypisch und drehbuchtauglich) ‚schwierige‘ bzw. ‚starke‘, d. h. sich gesellschaftlichen Regeln offensiv nicht beugende (aber selbstverständlich hübsche und junge) Frau will den Tod der Mutter aufklären. Ihr zur Seite stellt D’Andrea einen erfahrungsgebeutelten, schon älteren (und attraktiv verwitterten) Schriftsteller, dem er eine Biografie strickt, die einerseits vergeblich ein interessantes Leben nachzeichnet, während sie andererseits für die Handlung kaum erheblich ist.
Sämtliche Figuren sind Reißbrett-Konstrukte: Eine nun endgültig bestätigte Vermutung ist D’Andreas Unvermögen, Profiltiefe zu entwickeln. Womöglich liegt es daran, dass der Autor uns mit einer wahren Legion ausführlich vorgestellter Figuren konfrontiert, die viel zu oft höchstens Gastauftritte liefern und aus einem Geschehen verschwinden, das ohnehin nur schleppend vorankommt bzw. durch ‚Geheimnisse‘ angereichert wird, die zunächst verheißungsvoll klingen, dann jedoch in enttäuschender ‚Auflösung‘ verpuffen.
Zwischen Südtirol und der x-ten Dimension
Schon in seine (ab-) gefeierten Vorgänger-Thrillern ließ D’Andrea Anzeichen angeblichen Jenseits-Wirkens einfließen. Dieses Mal geht er auf den Lovecraft-Trip. Gewisse Kritiker überschlagen sich förmlich vor Vergnügen darüber, wie ‚genial‘ D’Andrea seine Geschichte mit entsprechenden Anspielungen versetzt habe. Über grünen Geek-Klee sollte eine gute Story jedoch erhaben bzw. nicht auf sie angewiesen sein. Zudem arbeitet D’Andrea vorsichtshalber mit dem Holzhammer, da sein Kernpublikum allzu zarte Andeutungen womöglich nicht erkennen kann.
Dass der titelgebende „Wanderer“ eine Kreatur aus einer x-dimensionalen ‚Zwischenwelt‘ sein könnte, ist eine Finte, die D’Andrea immerhin plausibel aufzulösen weiß. Doch sein Ehrgeiz geht weiter: Munkelt es womöglich doch überirdisch in Kreuzwirt und Umgebung? Die Familie Perkmann hütet in ihrer Bibliothek ein ganz besonderes Buch: Ein Mystiker und Fachmann für das Übersinnliche soll „Von unaussprechlichen Kulten“ im 19. Jahrhundert geschrieben und dabei auf „verbotenes Wissen“ zurückgegriffen haben. Der Horror-Fan kennt (Friedrich Wilhelm) von Junzt natürlich: H. P. Lovecraft (1890-1937) hat sich in seinem Cthulhu-Zyklus mehrfach auf dessen fiktives Werk berufen. D’Andrea nennt den Verfasser „von Juntz“, aber er lässt ja auch einen Schurken als „August Darleth“ auftreten, der an den Schriftsteller und Lovecraft-Adepten August Derleth (1909-1971) erinnern soll: Auf diesem Niveau bewegen sich seine ‚Zwischentöne‘.
Melodramatisch will D’Andrea die Spannung hochtreiben. Während er sich atemlos in der Beschreibung unerhörter Gräuel versucht, sucht der unbeeindruckte Leser vergeblich nach entsprechenden Triggern: Kreuzwirt ist nie ein atmosphärisch zwischen Raum und Zeit waberndes Kristallisationszentrum sprachlos machenden Schreckens, sondern nur D’Andreas ordnungsarme Baustelle für Mythentümelei. Selbst das Lokalkolorit wusste er in den genannten Frühwerken wirkungsvoller einzusetzen. Auf diese Weise verstreichen - manchmal unterhaltsam rasch, oft aber zäh - die Seiten, bis die Schauermär irgendwie - D’Andrea hofft hintergründig - endet bzw. ihr die Luft definitiv ausgeht.
Fazit:
Auf mehreren Bedeutungsebenen entwickelt der Verfasser bedeutungsschwanger ein womöglich nicht auf diese Welt beschränktes Mord-Mysterium. Dies ergibt eine weniger ideenstarke als effektgepimpte Schauermär, die auf der Zielgeraden jegliche Mehrdimensionalität schamvoll (oder dreist) leugnet.
Luca D'Andrea, Penguin
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