Der Bluthund

  • Blanvalet
  • Erschienen: Juli 2020
  • 6

Wulf Bergner (Übersetzung)

Der Bluthund
Der Bluthund
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Michael Drewniok
60°1001

Krimi-Couch Rezension vonAug 2020

High Sierra: Reacher gegen Pillenschmuggler

Auf seiner nie endenden Tour durch die meist weniger schönen Regionen der USA vertritt sich Jack Reacher nach langer Busfahrt in einem Nest irgendwo in Wisconsin die Beine. Im Fenster eines Pfandhauses fällt sein Blick auf einen ganz besonderen Ring: Ihn tragen jene, die harte Ausbildungsjahre in der Akademie West Point überstanden haben. Diese militärische Eliteschmiede hat auch Reacher besucht, weshalb er weiß, dass niemand sich aus freien Stücken von einem solchen Ring trennen würde.

Er erwirbt das Schmuckstück und beschließt der Sache auf den Grund zu gehen = die Eigentümerin - der Ring ist klein - zu suchen. Wie üblich sticht Reacher damit in ein Wespennest, denn die Spur führt nach Rapid City und zu Arthur Scorpio, einer kriminellen Lokalgröße, die es nicht gewohnt ist Fragen zu beantworten. Der unbeeindruckte Reacher ‚überzeugt‘ Scorpio zu reden.

Kurz darauf ist er auf dem Weg nach Mule Crossing, einem Städtchen im Hinterland von Wyoming. Allerdings hat ihn der wütende Scorpio in eine Falle gelockt. Er betreibt vor Ort einen schwunghaften Handel mit gestohlenen Schmerzmitteln, die als Rauschgiftersatz dienen. Scorpio befiehlt einem seiner Schergen, Reacher umgehend umzulegen, sobald dieser in Mule Crossing auftaucht.

Dies haben schon viele versucht und sind gescheitert. Auch dieses Mal geht der Plan nicht auf. An Reachers Seite ermitteln inzwischen Privatdetektiv Terrence Bramall und dessen Auftraggeberin Tiffany Mackenzie. Sie vermisst ihre Zwillingsschwester, eine Soldatin, die nach ihrem letzten Einsatz im Nahen Osten spurlos verschwunden ist. Offensichtlich sucht man dieselbe Frau, weshalb man sich zusammentut, was zudem hilft, sich gegen Scorpios Leute zu wehren. Reacher und seine Begleiter folgen unbeirrt der Spur, die sie dorthin führt, wo der moderne Medikamentenschmuggel blüht, der wie der klassische Rauschgifthandel allergisch bzw. mörderisch auf neugierige Schnüffler reagiert …

Wer im Ameisenhaufen herumstochert …

Auch in seinem 22. Abenteuer bleibt sich Reacher treu. Dass die Realität dabei noch vehementer als sonst außen vor bleibt, stört nicht grundsätzlich. Der Plot vom fahrenden Ritter, der privat dort für Gerechtigkeit sorgt, wo dem Gesetz die Hände gebunden sind, ist längst nur noch Vorwand für eine Story, die - „Der Bluthund“ beweist es sicherlich unfreiwillig, aber deutlich - auch auf Plot-Stringenz keinen besonderen Wert legt.

Womöglich liegt es in der Absicht des Verfassers, dass die beiden Handlungsstränge keine schlüssige Verbindung aufweisen. Da haben wir einerseits Reachers Suche nach einer verschwundenen Soldatin, die andererseits zum Krieg mit einem Schmugglerring ausartet, zu dessen ‚Kunden‘ besagte Veteranin gehört. Wäre da nicht der (ansonsten charismafreie) Scorpio, dem Reacher ein wenig zu fest auf die Zehen tritt, gäbe es keinen Grund dafür, dass diese beiden Ereignissphären sich treffen.

Wir werden mit einem Problem konfrontiert, das Autor Lee Child zunehmend zu schaffen macht: Was kann er noch über Reacher erzählen, einen ohnehin limitierten Charakter, dessen Verhalten einem selbstinitiierten Ehrenkodex folgt, der ihn in Konflikt mit Zeitgenossen bringt, für die Gesetz und Moral Fremdworte sind? Arthur Scorpio reiht sich da nahtlos ein und strahlt als Schurke ohnehin keine Bedrohlichkeit aus. Reacher wird jedenfalls wiederholt problemlos mit ihm oder seinen tumben Kumpanen fertig.

Ein-Mann-Rammbock für kriminelle Trutzburgen

Damit ist eine grundsätzliche Schwäche angesprochen: Reacher gerät nicht (mehr) in echte Lebensgefahr. Stellt man ihm eine Falle, wittert er sie kurz vor dem Zuschnappen und dreht den Spieß um, was beispielsweise bedeutet, dass Reacher sich gegen ein halbes Dutzend gewaltfreudiger Rocker (!) stellen und diese spielerisch aufmischen kann. Schlecht ergeht es auch diversen Möchtegern-Attentätern, die Reacher wie lästige Fliegen abwehrt. Aus einem klugen Taktiker, der gefährliche Situationen analysiert und überlegene Gegner gewitzt ausmanövriert, ist ein Haudrauf geworden, dessen Widersacher sich wie Sandsäcke = betont dämlich benehmen, weshalb Reacher im großen Finale eine Horde kantiger Redneck-Strolche düpieren kann.

Natürlich ist es nett zu verfolgen, wie Drecksäcken zumindest auf dem Papier die Felle gegerbt werden. Die Reacher-Romane leben davon, dass ein Außenseiter kriminelles Pack mit eigenen Mitteln schlägt. Hinzu kommt Reachers Unabhängigkeit im Angesicht von Polizisten, Juristen und Politikern, die Child gern als selbstgefällige oder gar korrupte Blender darstellt, die das verliehene Amt selbstzweckhaft missbrauchen. Auch dieses Mal lernen wir einige dieser Weißwesten-Verbrecher kennen, die zwar ihrer gerechten Strafe, aber selbstverständlich nicht Reacher entgehen.

Diese Konstellation ist zum Selbstzweck geworden. Sie mag funktionieren, aber sie bedient deutlicher als früher jene Leser, die sich über praktizierte Selbstjustiz freuen. Weiterhin aus bleibt eine Entwicklung der Hauptfigur, die das Gros der Reacher-Fans wahrscheinlich ohnehin ablehnt, weil es die zuverlässige Wiederkehr bekannter Handlungsstrukturen schätzt und auf Plot-Stringenz weniger Wert legt. Reacher muss also Reacher und deshalb (höchstens) zweidimensional bleiben.

(Un-) Heimliche Anwesenheit ‚echter‘ Werte

Lee Child ist Brite, weshalb man zu seinen Gunsten davon ausgehen möchte, dass er die Vigilanz-Mentalität seiner Hauptfigur ebenso unterhaltsam einsetzt wie die Hochachtung des US-Militärs, das offenbar unabhängig von der Politik (oder der Justiz) agiert und sich als eine Art Orden geriert, der unter Ignorierung des (ohnehin fadenscheinigen) Gesetzes, aber moralisch gerechtfertigt in Not geratene Brüder und Schwestern unterstützt. Ausgerechnet Reacher, den man als Militärpolizisten schnöde aussortiert und entlassen hat, verinnerlicht diesen fragwürdigen Ehrenkodex?

Ebenfalls aufgesetzt wirkt die Quasi-Heiligsprechung einer Kriegerin, die im Dienst der gerechten (= US-amerikanischen) Sache ihre Gesundheit eingebüßt hat. Reacher genügt es, um ihr nicht nur zu helfen, sondern für sie zu lügen, einen Raubüberfall zu begehen und zu töten. (Außerdem schläft er mit ihr, womit Autor Child die lange Liste hochnotpeinlicher Liebesnacht-Schilderungen, mit denen er seine Leser offenbar absichtlich zum Fremdschämen zwingen will, eindrucksvoll verlängert.)

Auf der Stelle tritt Child in langen Mittelteil-Passagen, wenn Reacher und seine beiden (profillosen) Begleiter ausgiebige, meist erfolglose Autofahrten unternehmen, um nach der Vermissten oder Scorpios Schurken zu suchen. Die Beschreibungen einer ebenso öden wie faszinierenden Landschaft sind ausgezeichnet, aber sie können über das Stolpern der Handlung nicht hinwegtäuschen. Das Finale ist turbulent, aber eine Auflösung, in der alle Ereignisstränge plausibel zusammenlaufen, mag man es nicht nennen. Child versucht das Reacher-Muster zu variieren, doch der allgegenwärtige Zufall und die allzu sichtbar steuernde Hand des Verfassers sorgen dafür, dass „Der Bluthund“ - ein furchtbar einfallsloser Deutsch-Titel - im Mittelfeld der Serie steckenbleibt.

Fazit:

Band 22 der Reacher-Serie konfrontiert die Leser mit einem Plot, dessen Stränge vor allem der Zufall bestimmt. Allzu pathetisch ist die Sub-Story einer tragischen Heldin, der Reacher auf kriminelle Weise ‚hilft‘. Es fehlt die Originalität, mit der Autor Child seinen ruppigen Ritter zur Tat schreiten lässt: gut geschriebener, aber mittelmäßiger Thriller.

Der Bluthund

Lee Child, Blanvalet

Der Bluthund

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