Glasflügel
- Diogenes
- Erschienen: Februar 2020
- 3
Ulrich Sonnenberg (Übersetzung)
Geschichten aus einer dänischen Kleinstadt
Am Montag, 9. Oktober, wird in einem Springbrunnen in der Kopenhagener Innenstadt eine Frauenleiche gefunden. Sie weist multiple kleine Schnittverletzungen auf, die zum langsamen Ausbluten geführt haben. Polizeiassistent Jeppe Kørner bekommt den Fall zugewiesen. Seine Partnerin Anette Werner befindet sich frisch in der Elternzeit.
An den zwei folgenden Tagen wird je eine weitere Leiche gefunden. Die drei Mordopfer weisen die gleichen Verletzungen auf. Die Ermittler finden schnell eine Verbindung zur psychiatrischen Jugendeinrichtung Sommerfuglen, die nach dem Suizid einer Patientin geschlossen wurde. Jeppe steht unter Erfolgsdruckruck, weil seine Vorgesetzte schnellstens Ergebnisse sehen will. Anette arbeitet an dem Fall mit, obwohl sie nicht darf, und begibt sich in große Gefahr.
Gender bender
Das Ermittlungsgespann in „Glasflügel“ erfüllt Ansprüche an die soziale Geschlechtergestaltung des 21. Jahrhunderts. Jeppe Kørner ist sehr empfindsam, kinderlieb, hätte auch gerne ein eigenes Kind gehabt, woraus jedoch trotz Behandlung wegen seiner Zeugungsunfähigkeit nichts wurde. Deshalb hat ihn seine Frau in Richtung eines fruchtbaren Kandidaten verlassen.
Nun fristet Jeppe sein Dasein bei seiner Mutter, wird dort wieder zum Kind, weiß nicht, wie er ihr schmerzfrei beibringen soll, dass er wieder eine Freundin hat, mit der er demnächst vielleicht zusammenzieht. Er hat Befürchtungen, Mutter könne darunter leiden, von ihm verlassen zu werden und wieder alleine leben zu müssen.
Anette Werner dagegen ist recht unempfindlich, hart im Nehmen und Geben, der sinnlichen Seite des Lebens stärker zugewandt, übergewichtig, was sie keinesfalls stört. Was sie aber stört, das ist ihre Elternzeit, und dieses durch seine ständig lautstark artikulierten Ansprüche nervende Baby, das sie – ihrer eigenen Aussage gemäß - zur Melkmaschine degradiert und das sie, kurz, am liebsten gar nicht bekommen hätte.
Zum Glück ist da ihr Ehemann Svend, der so sehr in seiner Mutterrolle aufgeht, dass Anettes Engagement auf das Stillen beschränkt bleiben kann, wozu sie gerne auch mit Baby in ihr Auto steigt und sich ablenkt, indem sie den Polizeifunk mithört. Die Elternzeit ist für sie langweiliger als „das Säubern von Fugen“, und sie bekommt nach kurzer Zeit das Gefühl, nichts mehr zu leisten. Deshalb beteiligt sie sich privat an den Ermittlungen, was natürlich Probleme verursacht.
Die schönste Figur ist eine pensionierte Uni-Dozentin
Bizarre Nebenfiguren bereichern die Geschichte, wie der Arme, der sich als jemand anderes ausgibt und so zu Geld kommen will. Besonders ist hier die auf die 70 Jahre zugehende Pensionärin Esther de Laurenti zu nennen, ehemalige Literaturdozentin an der Uni Kopenhagen, aufgrund des Verlustes zweier ihr nahe gewesener Menschen Kandidatin für eine Psychotherapie. Esther, deren Hobby Rotweintrinken ist, lebt in Wohngemeinschaft mit ihren beiden Möpsen Dóxa und Epistéme sowie Gregers Hermansen, einem 84 Jahre alten Mann mit dem Benehmen eines Vierjährigen.
In „Krokodilwächter“, dem ersten Band der bislang drei Kopenhagen-Thriller Engbergs, bemuttert sie ihren jungen Gesangslehrer, in „Glasflügel“ verschafft ihr der neue Mieter, der sich vorstellt als Alain Jacolbe, ein Konzertpianist, der kochen kann, sonderbare Gefühle in Bauch und Unterleib.
Esther setzt sich gelegentlich zwar mit dem Altern auseinander, beendet dieses Nachdenken aber zumeist in negativer Sicht. Zugleich möchte sie sich gerne begehrt fühlen.
Zur Fallbearbeitung
Wenn Ermittlerfragen zum ersten Mordopfer in drei Variationen damit beantwortet werden, dass es vor der Obduktion keine Informationen gibt, dann ist das weder produktiv noch inhaltlich zwingend. Hinzu kommen Dialogstellen, so über ein Fahrrad, die weniger an eine Fallbesprechung erinnern, als an eine Übungssituation in der Polizeischule. Zudem gibt es im Verlauf der Ermittlungen einige Redundanz. Die Charaktere sind erheblich interessanter als die Kriminalgeschichte.
Political Correctness versus menschliche Grundausstattung
Eine Stärke des Romans ist Engbergs Umgang mit der Perspektive. Erzählt wird in der dritten Person Singular, aber immer sehr nahe bei den, gelegentlich im Kopf der Figuren, wobei die Autorin die perspektivischen Wechsel geschickt gestaltet.
Das ermöglicht Engberg auch die geschickte Behandlung heutiger Diskurse über Rassismus und Sexismus als unreflektierte Bestandteile der menschlichen Grundausstattung.
Wenn Jeppe an seine Kollegin und Freundin Sara denkt, liest sich das schon Mal so: „tunesische Wurzeln und eine Haut wie Milchschokolade“. Oder so: „So schön konnte der Körper einer Frau sein, die einem den Rücken zudrehte, nackt und geformt wie ein Streichinstrument.“
Skandinavischer Krimi – Gesellschaftskritik darf nicht fehlen
Die politische Erzähllinie fokussiert das Gesundheitssystem, den Zusammenhang von Fehlfinanzierung, Profitstreben und Kostensenkung, dessen Folgen, die sich vor allem äußern in zu wenig Personal und Personal mit unzureichender Qualifizierung. Personal, dass sich, um den Trade-off zwischen guter Versorgung und Mangelverwaltung zu bewältigen, in eine rechtliche Grauzone oder gar in die Rechtsverletzung begibt.
Fazit:
Katrine Engbergs „Glasflügel“ erzählt von einer Mordserie, die im Zusammenhang mit einer psychiatrischen Einrichtung für Jugendliche steht und binnen fünf Tagen aufgeklärt wird. Die Rahmenhandlung spielt fünf Tage nach Beginn der Haupthandlung und hat eine Tat zum Inhalt, die gegen Ende des Romans für emotionale Verwirrung sorgen soll. Der Kriminalfall selbst ist Standardware. Engberg zeichnet aber plausible Charaktere und liefert eine gute Beschreibung menschlicher Befindlichkeiten, Stärken und Schwächen.
Katrine Engberg, Diogenes
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