Engel der Finsternis
- Heyne
- Erschienen: Januar 1998
- 11
- New York: Random House, 1997, Titel: 'The Angel of Darkness', Seiten: 629, Originalsprache
- München: Heyne, 1998, Seiten: 639, Übersetzt: K. Schatzhauser
- München: Heyne, 1999, Seiten: 844
Den Ausflug in die Historie wird man nicht bereuen
Eine ungewöhnliche Gemeinschaft von Amateurdetektiven hat sich im New York des ausgehenden 19. Jahrhunderts zusammengefunden, um einen ebenso ungewöhnlichen Entführungsfall zu lösen. Die siebenköpfige Gruppe besteht aus:
- dem Psychiater Dr. Laszlo Kreisler, der ein Institut leitet, in dem er Jugendliche davor bewahrt, auf die schiefe Bahn abzugleiten oder sie von dort in die Gesellschaft zurückholt,
- John Schuyler Moore, einem Jounalisten bei der New York Times, der schönen Frauen ebenso zugetan ist wie einem guten Tropfen,
- Sara Howard, die dem Status der Amateurdetektivin schon entronnen ist, denn sie hat vor kurzem eine Privatdetektei eröffnet, in der sie ausschließlich Frauen ihre Dienste anbietet,
- den Detektives Marcus und Lucius Isaacson, einem Brüderpaar bei der New Yorker Polizei, die aufgrund ihrer innovativen Ermittlungsmethoden bei wichtigen Fällen gar nicht so gerne gesehen werden und deshalb oft zu "Sonderaufgaben" eingeteilt werden,
- dem Farbigen Cyrus Montrose, der für Dr. Kreisler arbeitet und
- dem 14-jährigen Stevie Taggert, einem Jugendlichen, der sich früher mit Diebstählen durchgeschlagen hat und den Dr. Kreisler in ein geregeltes Leben zurückgeführt hat. Stevie fungiert außerdem als Erzähler der Geschichte.
Saras Auftraggeberin ist Senora Isabel Linares, die Frau eines spanischen Diplomaten. Sie wurde im Park niedergeschlagen und ihre kleine Tochter Ana entführt. Man vermutet zunächst politische Gründe, denn die Beziehungen zwischen Spanien und den USA sind gespannt und ein Krieg steht unmittelbar bevor. Doch kein Entführer meldet sich und die kleine Ana bleibt wie vom Erdboden verschluckt, bis die Mutter in einem Bahnwagen eine Frau entdeckt, die ihre Tochter auf dem Arm trägt. Doch nicht nur das Verschwinden von Ana bleibt rätselhaft, auch das Verhalten des Vaters. Denn dem scheint völlig egal zu sein, was mit seiner Tochter geschieht und schlägt seine Frau zusammen, damit diese nichts unternimmt.
Mit Hilfe einer Phantomzeichnung kommen die Detektive auf die Spur von Libby Hatch. Und so nach und nach entdecken sie, dass es mit einer überaus gefährlichen Gegnerin zu tun haben, die nicht so leicht zu besiegen sein wird. Die Handlung entwickelt sich dann auch völlig anders als erwartet und nimmt schließlich noch ungeahnte Wendungen.
Mit "Engel der Finsternis" ist Caleb Carr ein kleines Meisterwerk gelungen. Wenngleich der Begriff "klein" aufgrund des Umfangs von fast 850 Seiten hier wohl eher fehl am Platz scheint. So kann er sich natürlich auch Zeit nehmen, bis ins winzigste Detail zu gehen und ein Bild zu erschaffen, das die Atmosphäre eines New Yorks der Jahrhundertwende fabelhaft zu treffen scheint. Ein Stadtplan von New York dürfte hilfreich sein, um die Wege der Gruppe mitverfolgen zu können. Natürlich dauert es auch dementsprechend lange, bis die Handlung so richtig in Schwung gerät, doch diese Zeit gesteht man dem Autor gerne zu. Es wird am Anfang sehr viel auf den Vorgängerroman "Die Einkreisung" eingegangen, was nicht unbedingt hilfreich ist, wenn man das Buch nicht kennt. Da der Erzähler die Geschehnisse angeblich rückblickend aus dem Jahr 1919 beschreibt, fühlt man sich sprachlich und auch erzähltechnisch etwas an die Sherlock-Homes-Romane erinnert, wenn auch Carr weitaus tiefer geht und seine Story ungleich subtiler erzählt.
"Während wir auf der Dritten Avenue aus dem Lichtkreis einer Straßenlaterne in den der nächsten traten und an schlichten drei- und vierstöckigen Häusern und gelegentlich unter einer die Breite des Gehwegs überspannenden Markise eines Lebensmittel- oder Grünkramstandes vorüberkamen, hängte sich Miss Howard links bei Cyrus und rechts bei mir ein und begann, sich zu dem wenigen an nächtlichem Treiben zu äußern, dessen wir unterwegs ansichtig wurden. Sie war erkennbar bemüht, ihre momentane Errregung dadurch zu zügeln, dass sie einfach drauflosplauderte."
Obwohl der Erzählstil sprachlich sehr distanziert wirkt, hat man dennoch das Gefühl, mitten im Geschehen drin zu stecken.
Caleb Carr hat äußerst vielschichtige Charaktere geschaffen, wobei er selbst den schlimmsten Verbrechern noch positive Seiten abgewinnen kann und andererseits die Protagonisten allesamt nicht ohne Fehler sind. Aufgrund der ausführlichen und intensiven Beschreibung erscheinen die Figuren auch allesamt sehr plastisch und greifbar.
Neben diesen Charakteren hat Carr aber auch noch einige prominente historische Persönlichkeiten auf seiner Besetzungsliste:
- Clarence Darrow, einer der bedeutendstens Strafverteidiger der amerikanischen Geschichte
- Elizabeth Cady Stanton, eine berühmte Frauenrechtlerin
- Cecilia Beaux, eine amerikanische Malerin und
- Theodore Roosevelt, der das Marineministerium leitet und später Präsident der USA wird.
Außergewöhnlich dabei, dass diese Figuren nicht nur als Staffage dienen, sondern mehr oder weniger tragende Rollen übernehmen.
Sich in der Zeit zurückversetzt zu finden, zeigt einem wieder mal viele als selbstverständlich hingenommene Gegebenheiten unserer heutigen Epoche auf. Dort werden für Auskünfte, die man heute in wenigen Minuten hat, Tage vergeudet. Deshalb scheint auch die Handlung oft nur quälend langsam voran zu schreiten. Auf vielen Gebieten steckte die Forensik noch in den Kinderschuhen. Um eine Phantomzeichnung anzufertigen, wurde eine bekannte Malerin engagiert. Ballistische Untersuchungen wurden noch nicht als Beweise zugelassen. Und es zeigt sich, dass Profiler keine Erfindung der Neuzeit sind, allenfalls das Wort selbst ist eine moderne Schöpfung.
Die Suche nach dem Täter ist schnell beendet. Hier geht es darum, diesen zu überführen und vor allem die Frage nach dem "Warum" zu untersuchen. Dabei beleuchtet der Autor das menschliche Verhalten von verschiedenen Gesichtspunkten aus und zeigt ungeahnte Abgründe auf.
Die Gerichtsverhandlung, die einen breiten Teil der Handlung einnimmt, kann es mit ihren immer wieder überraschenden Wendungen durchaus mit bekannten Justiz-Thrillern aufnehmen. Carr hat dabei sehr viel Wert auf psychologische Effekte gelegt. Auch das Thema Todesstrafe spielt eine große Rolle, wobei wir hier einen der selteneren Fälle vorfinden, in dem sich das Pendel deutlich der "Pro"-Seite zuneigt. "Aber wenn Tiger Mensch tötet, dann muß töten Tiger - einmal Blut von Mensch, Tiger will immer Blut von Mensch", ist nicht nur die Einstellung des Phillipinen El Niño.
Der actionreiche Schluß fällt leider ein wenig ab, denn hier verlässt der Autor das Gebiet seiner Stärken.
"Engel der Finsternis" sei Krimiliebhabern, denen vor dicken Büchern nicht Angst ist, als Abwechslung gegenüber standardisierten amerikanischen Thrillern ans Herz gelegt. Den Ausflug in die Historie wird man mit Sicherheit nicht bereuen. Caleb Carr ist in Deutschland noch weitgehend unbekannt und ein echter Geheimtip.
Caleb Carr, Heyne
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