Schatten über Marrakesch
- Heyne
- Erschienen: Mai 2020
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Jens Plassmann (Übersetzung)
Ein Krimi, der den Reiseführer ersetzt
„Schatten über Marrakesch“ ist die ideale Lektüre für alle, die nicht in den Urlaub fahren können oder wollen. Es ist nicht nur ein clever konstruierter Kriminalfall, sondern auch ein Reiseführer, der die Leser tief in die Stadt und die Kultur und Gesellschaft ihrer Bewohner hineinführt.
Das Setting des Krimis ist geschickt gewählt und symbolisch: Es ist Ramadan, die Menschen sind gereizt und müde. Mit über 40 Grad ist der August ungewöhnlich heiß - selbst für marokkanische Verhältnisse. Ein heftiger Sandsturm steht der Stadt und den Menschen bevor. Und auch die Hauptpersonen des Krimis müssen stürmische Zeiten und Gefühle durchstehen, bis sich für jeden der „Schatten über Marrakesch“ gelichtet hat.
Eine Frage der Ehre – und der Politik
Hauptperson ist Karim Belkacem, ein junger Kommissar, der erst seit 18 Monaten auf seinem Posten sitzt und sich wegen seiner Berberabstammung diskriminiert und unterfordert fühlt. „Er dagegen wurde mit Bagatellsachen abgespeist, weil er Chleuh war, ein Berber aus den Bergen. … Wäre Karim ebenfalls Araber, hätte Aziz ihn bestimmt nicht derart respektlos behandelt!“ Als eine junge Frau aus seinem Bekanntenkreis ermordet aufgefunden wird, erwartet Karim, dass er den Fall übernehmen wird.
Stattdessen soll er sich um Produktfälschungen kümmern. Karims Proteste kommen bei den Kollegen und Vorgesetzten nicht gut an. Trotzdem ermittelt er heimlich in dem Fall, schließlich erwartet das auch seine Familie von ihm. „Unsere Ehre und deine Ehre stehen hier auf dem Spiel.“ Dabei kommt ihm schnell der Verdacht, dass die offiziellen Ermittlungen eher zur Vertuschung als zur Aufklärung dienen sollen und politische und wirtschaftliche Motive dahinterstecken.
Marokko - eine Gesellschaft im Umbruch
In „Schatten über Marrakesch“ kommen die Umbrüche und Konflikte, die in der marokkanischen Gesellschaft herrschen, zur Sprache. Es geht um traditionelle Werte versus moderne Sitten, um das Machtgefälle zwischen zugereisten Ausländern, eingesessenen Marokkanern, geringgeschätzten Berbern und arabischen Investoren.
„Jahrelang hatte Sébastien einen Lebensstil gepflegt, von dem die meisten Marokkaner nur träumen konnten. … Als französischer Staatsbürger gehörte er schließlich einem überlegenen Menschenschlag an.“ Auch Korruption, Pädophilie, Prostitution und religiöser Fanatismus kommen zur Sprache.
Ein ausgereiftes Debüt
Die verschiedenen Handlungsstränge und Wege der Personen kreuzen sich und laufen in einem fulminanten Finale zusammen, wobei auch Nebenhandlungen ihren logischen Abschluss finden. „Schatten über Marokko“ hält einige unvorhersehbare Überraschungen für die Leser und seine Hauptpersonen bereit.
Der Fall bleibt immer spannend, die Personen haben Tiefe, ihre Denkweisen und Konflikte werden verstehbar. Bei aller Ernsthaftigkeit und Tragik gibt es auch eine Prise Humor in Person der zugereisten Engländerin Kay, die in ihrem Blog die Realität in blumigen Worten schönt, um Gäste zu gewinnen und auch bei ihrer eigenen Person gerne hochstapelt.
Man merkt dem Autor die Liebe zu Marokko an, James von Leyden reist und lebt seit Jahrzehnten in dem Land. Kenntnisreich entwirft er ein Panorama der marokkanischen Gesellschaft und ihrer Probleme. Es ist kaum zu glauben, dass „Schatten über Marrakesch“ sein Debüt ist, so gekonnt ist es konstruiert.
Marrakesch ist mit allen Sinnen spürbar
Ein besonderes Talent des Autors ist es, die Atmosphäre seiner Schauplätze so eindrücklich zu vermitteln, dass man als Leser förmlich die Hitze spürt, die Gerüche wahrnimmt und die Geräusche hört. Marrakesch ist nicht nur eine folkloristische Kulisse, sondern spielt eine Hauptrolle. Detailreich beschreibt James von Leyden die Szenerien. Eingestreute arabische Begriffe verstärken noch die Authentizität.
Fazit:
Am Ende ist der Fall gelöst, der Schatten vertrieben, alle Geheimnisse und Lügen aufgeklärt. Kommissar Karim Belkacem darf gerne weiter ermitteln!
James von Leyden, Heyne
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