Die Strohpuppe
- Ullstein
- Erschienen: Januar 2001
- 2
- London: HarperCollins, 2000, Titel: 'Native Rites', Seiten: 444, Originalsprache
- München: Ullstein, 2001, Seiten: 527, Übersetzt: Susanne Aeckerle
- München: Ullstein, 2002, Seiten: 527
Solide erzählte Schauergeschichte, der ein bisschen Abweichung von der Norm gut täte
Einige tüchtige Schläge hat das Schicksal der armen Alison Fenway versetzt. Im Vorjahr war sie in ihrer Heimatstadt Boston nur knapp einem Großfeuer entronnen, hatte dabei allerdings ihr ungeborenes Kind und kurz darauf den Verstand verloren. Nach mehreren im Sanatorium verbrachten Monaten schien ein Tapetenwechsel ratsam. Ein glücklicher Zufall fügte es, dass Alisons Gatte Miles, der gebürtiger Brite ist, von einer alten Tante Priory High, ein feudales Landhaus in den südostenglischen Downs, erbte. Seinem Job als Bänker kann er auch dort nachgehen, und Alison ist es einerlei; sie will nur gesund und vor allem endlich Mutter werden, was bei ihr durchaus zur fixen Idee geworden ist.
Beulah, das kleine Dorf in den Hügeln der Downs, ist ein seltsamer Ort, in dem in gewisser Weise die Uhr stehengeblieben ist. So schätzt man hier nicht die Christenkirche, sondern hält es eher mit den uralten Naturgottheiten, die von den keltischen Vorfahren der braven Bürger verehrt wurden. "Burning Man" ist eines der orgiastischen Feste, die man in Beulah ausgiebig feiert. Eine Strohpuppe wird im Rahmen eines Erntedankes verbrannt, dessen Programm dem Bischof arges Stirnrunzeln bereiten würde. Aber die Dörfler halten seit jeher die Aussenwelt fern und bleiben ganz unter sich.
Dabei gäbe es viel auch für die Polizei Interessantes in Beulah zu entdecken. Damit ist nicht nur des Dorfarztes merkwürdige Gattin gemeint, die in ihrem Gewächshaus allerlei Rauschpflanzen züchtet und die Ernte großzügig mit den Mitbürgern teilt. Deshalb könnte es durchaus sein, dass eine Mischung aus schlechten Erinnerungen und Drogennebel Alison glauben machte, im Scheiterhaufen des "Burning Man" beileibe keine Puppe, sondern einen echten Menschen erspäht zu haben. Allerdings findet sie später in der Asche einen Fingerknochen ...
Den hätte sie gern dem jungen Polizisten Justin Liddle gezeigt, doch da gibt es ein Problem: Alison ist inzwischen zur Mörderin geworden. Harry, einen der unberechenbaren Blamire-Zwillinge, hat sie in den Kessel der örtlichen Tierkadaver-Verwertungsfabrik gestoßen, nachdem sie fast von ihm vergewaltigt worden war. Freilich kann sich Alison nicht nur auf Notwehr berufen; Harry hatte ihr eröffnet, von Miles in der Nacht des "Burning Man" ins Fenwaysche Schlafzimmer geholt worden zu sein, um ihn dort dabei zu unterstützen, der von Alkohol und Drogen betäubten Gattin endlich zum ersehnten Nachwuchs zu verhelfen. Da Alison Harrys Ende deshalb für eine gerechte Strafe hält, verwischte sie ihre Spuren, indem sie die Fabrik niederbrannte. Anschließend lernt sie mit der Lüge zu leben, versöhnt sich mit Miles, findet eine neue Freundin, beginnt ein Verhältnis mit Justin Liddle und lebt sich so unmerklich in Beulah ein, ohne zunächst zu erkennen, was wirklich hinter den Kulissen dieses Dorfes vor sich geht. Die alten Götter sind wirklich mächtig hier, und sie sorgen gütig für ihre Kinder. Dafür verlangen sie freilich die Einhaltung gewisser Regeln ... und regelmäßige Opfer ... und die strikte Austilgung Ungläubiger ...
Eine gute Geschichte lassen wir uns immer wieder gern erzählen, auch wenn wir sie längst kennen. "Die Strohpuppe" ist ein Roman bar jeder Originalität, der nichtsdestotrotz gut zu unterhalten weiss. Eigentlich haben wir Gruselfreunde sie ja gründlich satt, diese dreifach vernagelten Teufelsjünger, die ebenso eifrig wie einfallslos junge Frauen mit Babys im Bauch jagen, um erstere zu opfern und letztere anzubeten (oder umgekehrt). Der Trick, die Schwachen und Hilflosen solchem Horror erst auszusetzen, um sie dort über sich selbst hinauswachsen zu lassen, ist alt und billig. Daran ändert der längst zum Klischee geronnene Schlussgag, das Gute scheitern und die Satansbrut siegen zu lassen, nicht das Geringste. Selbstverständlich entpuppen sich - auch das ein Standard - alle freundlichen und hilfreichen Gefährtinnen und Gefährten der Heldin, besonders aber der eigene Ehegatte, im großen Finale als Handlanger des Bösen; die wahren Freunde erkennt man daran, dass sie vorab schön scheusslich zu Tode gekommen sind.
Auch "Die Strohpuppe" weicht konzeptionell kaum von diesem Schema ab. In jeder Zeile lassen sich alte Vorbilder erkennen. Weil David Hewson ein routinierter Schriftsteller ist, wie weiter unten noch darzulegen sein wird, wundert das gewählte Thema; hat er tatsächlich geglaubt, dem alten Garn neues Leben einhauchen zu können? Oder war er davon überzeugt, es sei inzwischen genug Gras über die Vorbilder gewachsen? Da hat er sich getäuscht: Nicht nur "Rosemarys Baby", sondern auch "Der Weidenmann" oder "Kinder des Zorns" von Stephen King (die unfreiwillig schauerliche Film-Serie noch mehr als die Kurzgeschichte) lassen grüßen, und zumindest Gruselfilm-Freunde dürften die Parallelen zum B-Movie-Klassiker "The Eye of the Devil" (GB 1965, dt. "Die schwarze 13") nicht entgangen sein.
Im Finale verlässt Hewson übrigens der Mut; was bisher die reale Anwesenheit des personifizierten Bösen suggerierte, entpuppt sich plötzlich als religiöser Wahnsinn, der durch sehr diesseitige Kapitalverbrecher unterstützt wird. Das wird vom Verfasser gekonnt entwickelt, was aber nichts daran ändert, dass sich der Leser etwas ent- und getäuscht vorkommt.
Hier haben wir ebenfalls die üblichen Verdächtigen: Die Bewohner von Beulah tarnen sich als schlichte Dörfler, die es faustisch dick hinter den Ohren haben. Aber Hewson lässt Gnade walten und erzählt seine Geschichte zwar mit dem nötigen Ernst, ist aber durchaus fähig und bereit ist, sie mit einiger Ironie zu betrachten. Schwarzer Humor ist eine seltene Gabe, zumal unter Schriftstellern, aber dieser hier versteht eine Menge davon. Die Blamire-Zwillinge sind jedenfalls auch ohne keltischen Einflüsterungen ziemlich üble Zeitgenossen, deren trauriger Werdegang mit grimmigem Spaß in Szene gesetzt wird. Daneben hat Hewson mit der Haschplätzchen backenden und Joints verschenkenden Dorfarztfrau oder den einander nicht unbedingt in legaler Liebe zugetanen Angehörigen der Cartwright-Sippe einige sehr skurrile Charaktere ins Leben gerufen.
Dagegen hat unsere Heldin natürlich einen schwereren Stand, denn sie muss die Handlung tragen und dabei vor allem tüchtig leiden. Es nerven halbwegs überstandener Wahnsinn, Eheprobleme, inbrünstiger Kinderwunsch und andere langbärtige Klischees. Doch diese Alison Fenway ist für einige Überraschungen gut. Der Mord am fiesen Harry Blamire in der ohnehin grotesken Kulisse einer verfallenen Abdeckerei kommt unvermittelt, und Alison erstaunt uns durch ihr konsequentes Handeln, das die passive Dämlichkeit so mancher von Gangstern und Geistern heimgesuchten Vorgängerin angenehm vergessen lässt. Ehegatte Miles bleibt dagegen über mehr als 500 Seiten eine Figurenhülse. Nur mit sehr viel Wohlwollen lässt sich der Leser vorgaukeln, dass dieser ausschließlich ein geplagter Workaholic und geprüfter, aber liebevoller Gatte ist. Vor allem ist er langweilig und taugt rein gar nicht als durchtriebener Erzbösewicht, der im Hintergrund die Fäden zieht.
David Hewson, Ullstein
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