Das verlassene Haus
- Edition M
- Erschienen: Dezember 2019
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Originalausgabe erschienen unter dem Titel „No Man’s Home“
- Seattle : Thomas & Mercer/Amazon Publishing 2019
- Luxemburg : Edition M Verlag 2019. Übersetzung: Falko Löffler. ISBN-13: 978-2-49670-106-7. 476 Seiten
- Luxemburg : Edition M Verlag 2019 [eBook]. Übersetzung: Falko Löffler. 5502 KB [Kindle]
Gefangen im eigenen Heim, also der privaten Hölle
Shaker Heights ist ein Vorort der im US-Staat Ohio gelegenen Großstadt Cleveland. Hier leben Menschen, die ein ‚ländliches‘ Leben in Stadtnähe schätzen und sich dies leisten können. Die hohen Immobilienpreise sorgen seit vielen Jahrzehnten dafür, dass Rawlingswood - erbaut 1921 - trotz seiner Geschichte immer neue Besitzer findet. Bereits der bankrottgegangene Bauherr Walter Rawlings fachte durch seinen Selbstmord düstere Gerüchte an; ohnehin steht das Haus auf einem Grundstück, das nach einem in Vergessenheit geratenen Kapitalverbrechen als „verflucht“ gilt.
Nach den Rawlings haben nacheinander die Bells, die Klussmans und die Martins Rawlingswood bewohnt. Glücklich sind sie dort nicht geworden. Ins neue ‚Heim‘ mitgebrachte Probleme sorgten für Zwischenfälle, die manchmal in Tragödien gipfelten. Der Tod war nie fern in diesem Haus, weshalb es kein Wunder ist, dass es heißt, in Rawlingswood würde es spuken.
Aktuell versucht sich Familie Spielman - Vater Myron, ein Arzt, Gattin Margot, die sich als Online-Instruktorin für Yoga die Zeit vertreibt, und Sohn Hunter - in dem großen Haus heimisch zu fühlen. Die Spielmans sind typische Rawlingswood-Bewohner, also ideale Opfer: Der Umzug nach Shaker Heights erfolgte nicht freiwillig, die Ehe der Eltern ist zerrüttet, und Hunter leidet unter pubertärem Weltschmerz.
Da die Spielmans nicht wirklich miteinander reden, verbergen sie lange voreinander, dass sie unheimliche Begegnungen der womöglich übernatürlichen Art haben. Primär scheint der Geist eines jungen Mädchens umzugehen. Die Erscheinungen sind eher beunruhigend als gefährlich - ein Muster, das sich bewährt hat für das Böse, das offenbar in Rawlingswood nistet und dessen Wurzeln in die Zeit vor dem Bau des Hauses zurückreichen …
Heimstatt des gut gefütterten Bösen
Das heimgesuchte Haus ist ein Ort, ohne den die Populärkultur deutlich ärmer wäre. Mörder bzw. Geister gehen dort um, wo man sich heimisch fühlen und zumindest nach Feierabend die persönlichen Schutzschilde herunterfahren möchte. Wenn sich ausgerechnet dort das Böse manifestiert, ist der daraus resultierende Schrecken umso intensiver: Man steht ihm nicht selten buchstäblich nackt und somit besonders schutzlos gegenüber.
Die Analogie zwischen einem Haus und einem lebenden Organismus liegt nahe. Es gleicht Haus einer gewaltigen Kreatur: Die Wände und das Dach sind die Haut, die Zimmer Organe, Streben und Pfeiler das Knochengerüst. Ein geht nur einen Schritt weiter, diesem ‚Wesen‘ ein Gehirn oder wenigstens einen Willen oder besser: eine psychische Präsenz zuzubilligen, die von den Bewohnern beeinflusst werden kann - im Guten wie im Bösen.
Selbstverständlich ist die Negativ-Variante die interessantere; wer interessiert sich schon für Geschichten, die sich in einem ‚glücklichen Haus ereignen? Für die Bosheit eines Hauses gibt es Gründe. Meist läuft es darauf hinaus, dass sich in seinen Mauern üble oder tragische Dinge ereignet haben. Das Haus wird zur Batterie, die sich mit Emotionen - hier vor allem Furcht und Hass - auflädt, um diese Energie fortan in Form gruseliger Phantome auszudünsten.
Im Schatten einer Gigantin
„Das verlassene Haus“ ist einerseits kompetent konzipiert und geschrieben, wandelt andererseits jedoch auf tief ausgefahrenen Gleisen. Autorin D. M. Pulley macht daraus klugerweise keinen Hehl. Sie rühmt in ihrem Nachwort die Schriftsteller-Kollegin Shirley Jackson (1916-1965) bzw. ihr Meisterwerk „The Haunting of Hill House“ (1959; dt. „Spuk in Hill House“).
Bei nüchterner Betrachtung bleibt „Das verlassene Haus“ eine Variation der Vorlage, die aus gutem Grund als Meisterwerk des (psychologischen) Schreckens gilt. Jackson beschrieb ein Spukhaus, das faktisch erst zu gefährlichem ‚Leben‘ erwacht, als eine psychisch angeschlagene, womöglich ‚übernatürlich‘ begabte junge Frau dort einzieht. Jackson überlässt die Entscheidung, ob es in Hill House wirklich umgeht oder die gestörte Frau hinter den seltsamen Ereignissen steckt, den Lesern. Ihr Talent zeigt sich darin, dass beide Möglichkeiten plausibel sind.
Wie die meisten Jackson-Epigonen hat Pulley das Konzept nicht nur aufgegriffen, sondern es vorsichtshalber vergröbert und glattgeschliffen, um es auf diese Weise lesertauglicher zu gestalten. Rawlingswood wird gleich von mehreren dysfunktionalen Familien bewohnt, die sämtlich private Probleme in spektakulärer Bandbreite durchspielen - kein Wunder, dass sich ihr Heim in ein Geister- bzw. Mordhaus verwandelt. Damit noch der Dümmste begreift, dass man es hier mit einem bösen Ort zu tun hat, konstruiert die Autorin eine Vorgeschichte, die Schauerlichkeiten quasi generieren muss.
Viel Spuk, wenig Substanz
Pulley weist selbst auf den Film „Poltergeist“ (1982 bzw. als Remake 2015) hin. Sie schöpft tief aus dieser Quelle, denn obwohl sie vorgibt, eine psychologische Gruselgeschichte mit Tiefengang zu erzählen, geht sie primär in die Breite. Fünf Familien erleben Schlimmes, das sich irgendwann summiert bzw. wiederholt. Um dies zu verbergen, springt die Handlung zwischen den Zeitebenen, aus denen sie sich zusammensetzt, vor und zurück. Aus Fragmenten enthüllt Pulley Stück für Stück, was in Rawlingswood geschah. Das sorgt für Spannung, solange sie das Rätsel hütet.
In der Auflösung lässt die erzählerische Qualität wie so oft nach. Faktisch ist das Thema durch: Je ‚irdischer‘ sich Spukhaus-Horror gibt, desto eher speist er sich aus geheimen Kammern und Gängen, in denen jene lauern, die den Bewohnern zu schaffen machen. Soll Übernatürliches primärverantwortlich für nächtlichen Hexensabbat sein, steht das Haus in der Regel auf einem alten Friedhof, der entweder entweiht oder genutzt wurde, um Schwarzmagier u. a. Strolche zu verscharren, oder über dem Ort eines ungesühnten Verbrechens.
Pulley ist nichts Neues oder gar Originelles eingefallen. Die alten, aber bewährten Klischees weiß sie immerhin routiniert einzusetzen, bis der Moment der Wahrheit naht. Sobald die Autorin zu erklären beginnt, wächst die Enttäuschung: Für manches Mysterium muss sie ihre Figuren nachträglich für dumm verkaufen sowie auf die Toleranz der Leser hoffen. Nur umständlich oder gar nicht kann manche logische Klippe umschifft werden, während andere ‚Lösungen‘ einfach nur platt sind. Vor allem der Startschuss für Rawlingswood als ‚böses‘ oder ‚unglückliches‘ Haus ist kein Geistesblitz. Mit der Handlung hat die Vorgeschichte nichts zu tun; sie wird als „Last-Minute-Tragödie“ nachgereicht.
Fazit:
Die zwar konventionelle, aber spannend gestartete Schauermär um ein heimgesuchtes Haus entpuppt sich als Psycho-Thriller um Schuld und Sühne. Die Autorin traut ihrer Story nicht und überfrachtet sie mit Figuren und Tragödien, womit die dadurch schwach wirkenden Auflösung nicht mithalten kann: zu viele Seiten bzw. verlorene Liebesmüh‘.
D. M. Pulley, Edition M
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