Die letzte Zuflucht

  • Ullstein
  • Erschienen: Januar 1959
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Michael Drewniok
70°1001

Krimi-Couch Rezension vonSep 2019

Strohhalm im Kampf gegen Gerechtigkeit

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist Erle Stanley Gardner bereits ein Autor populärer Kriminalromane und -storys. Gelesen werden vor allem jene Werke, in denen der Verteidiger Perry Mason Angeklagte freibekommt, die eigentlich schon auf dem Weg in die Todeszelle waren. Die Mason-Serie profitierte von Gardners juristischem Fachwissen, das ihm ermöglichte, scheinbar aussichtslose Fälle oft unter Einsatz spitzfindiger Interpretationen bzw. Nutzung von Gesetzeslücken zumindest literarisch zu klären. Wie so oft konnten oder wollten manche Zeitgenossen nicht zwischen Realität und Fiktion differenzieren. In diesem Fall wurde dies durch die Tatsache verstärkt, dass Gardner tatsächlich hauptberuflich als Anwalt tätig war. So war es eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis ihn jemand mit Perry Mason gleichsetzte und um die Aufklärung eines wahren Justizirrtums bat.

1945 wandte sich der Verteidiger des zwei Jahre zuvor als Frauenmörder und Vergewaltiger zum Tode verurteilten William Marvin Lindley an Gardner. Dieser sichtete Indizien und Aussagen und stellte fest, dass Polizei und Justiz schlampig gearbeitet hatten und Lindley ein Sündenbock war. Zwar musste er noch Jahre im Gefängnis schmachten, bis das düpierte Gesetz ihn endlich aus seiner Zelle ließ, doch immerhin entkam er dem Henker.

Gardner war auf ein zentrales Problem der US-amerikanischen Rechtsprechung aufmerksam geworden. Getürkte Indizien, manipulative Staatsanwälte, voreingenommene Richter und fachfremde Geschworene, dazu Ermittlungsfehler, Irrtümer, offene Rechtsbeugung und über allem ein System, das an einmal gefällten Urteilen nicht rühren wollte, um sich selbst nicht in Frage zu stellen: Hier gab es offensichtlich eine Grauzone, die den Einsatz einer unabhängigen Ermittlergruppe erforderte.

Der Splitter im Auge einer allzu selbstgerechten Justitia

Im Verlauf einer langen Urlaubsfahrt durch die kalifornische Wüste, die Gardner gemeinsam mit dem Verleger Harry Steeger unternahm, formte sich eine Idee, die 1948 als „Court of the Last Resort“ umgesetzt wurde. An ihn konnte man sich wenden, wenn das Gesetz offensichtlich versagt hatte. Gardner scharte eine kleine Gruppe idealistischer Juristen und Ermittler um sich. Steeger sorgte dafür, dass über die Arbeit der „Letzten Zuflucht“ regelmäßig im Magazin „Argosy“ berichtet wurde.

1952 schrieb Gardner das hier vorgestellte Buch, in dem er die Geschichte der „Letzten Zuflucht“ bis dato erzählte sowie die Gelegenheit nutzte, auf Fehler und Lücken in der US-Rechtsprechung hinzuweisen. Dies war nicht ohne Risiko, denn nach dem Zweiten Weltkrieg galt Kritik an US-Institutionen als Vaterlandsverrat, hinter dem wahrscheinlich die Sowjet-Teufel steckten. Ausführlich berichtet Gardner von oftmals aggressiven Vorbehalten, denen sich die Gruppe ausgesetzt sah.

In den USA sind Bundesstaatsanwälte („district attorneys“) Wahlbeamte, die sich nach Ablauf einer bestimmten Frist neu um ihr Amt bemühen müssen. Eine makellose Liste möglichst erfolgreicher Verurteilungen ist dabei hilfreich, während nachträgliche Korrekturen kein gutes Licht auf den Kandidaten werfen. Hinzu kommt das US-Geschworenensystem: Zwölf ‚redliche‘ Männer und Frauen ohne juristische Vorbildung sollen den gesunden Menschenverstand plus Volkes Stimme repräsentieren. Sie werden von den Anwälten beider Parteien weniger informiert als beeinflusst, weshalb Verurteilung oder Freispruch nicht von Schuld oder Unschuld abhängen muss, sondern von einem schlauen Anwalt verhindert bzw. erreicht werden kann. Aus entsprechenden Gefechten vor Gerichtsschranken ist nicht grundlos das „courtroom drama“ als eigenes Spannungsgenre entstanden.

Konzept und Realität: eine schwer überwindliche Kluft

1952 balancierte Gardner auf einem schmalen Grat. Die „Letzte Zuflucht“ war auf die mehr oder weniger freiwillige Unterstützung jener angewiesen, denen womöglich ein Justizirrtum nachgewiesen wurde. Deshalb formuliert Gardner betont vorsichtig und stellt mitarbeitswillige Juristen, Polizisten und Politiker vorbildhaft heraus. Zorn und Frustration über offene Zurückweisung und offensichtliche Vertuschung lässt Gardner lieber zwischen den Zeilen anklingen: Die „Letzte Zuflucht“ war zwar bereits bekannt und genoss Unterstützung, konnte und wollte aber nicht als Ritter-Orden gesehen werden, der gegen Ordnungskräfte kämpfte, die oft schlicht überlastet und schlecht ausgebildet waren, den Kampf gegen das Verbrechen jedoch ernstnahmen.

Gardner nimmt sich viel Zeit, um Verbesserungen für den Ermittlungs- und Justizalltag zu skizzieren, wobei er dem System ausdrücklich Funktionstüchtigkeit konstatiert; auch dies ist ein Zugeständnis an die Kritiker der „Letzten Zuflucht“, die Gardner ins Boot holen wollte. Er dürfte gewusst haben, dass die Fakten für sich sprechen = die Leser ins Grübeln bringen, wenn er exemplarisch verschiedene Fälle vorstellt, mit denen sich die „Letzte Zuflucht“ beschäftigt hat. Vor allem das zeitgenössische Publikum kannte angeblich lebensgefährliche, heimtückische Kreaturen wie Clarence Boggie, Bill Keys oder die Brüder Coke und John Brite. Alle wurden sie per Gerichtsurteil als Mörder abgestempelt. Gardner präsentiert uns das infame Räderwerk eines ‚Gesetzes‘, dem sie ohne die Mühen der „Letzten Zuflucht“ niemals entkommen wären.

Der Autor ist tunlichst bemüht, nie den Zeigefinger zu erheben: Profi Gardner wusste, dass man ungeachtet gerechter Empörung mit dem Kopf nicht durch die Wand brechen konnte. Setzt man Polizei, Justiz und Politik allzu sehr unter Druck, bilden sie eine Front, hinter der sie sich und ihre Interessen schützen, während der zu Unrecht Gefangene, um den es eigentlich geht, hinter Gittern verrottet. Man muss denen, die man aufgrund ihrer Fehler und Vergehen liebend gern selbst dorthin schicken möchte, ein Hintertürchen bieten, damit sie sich in die Schar der ‚Guten‘ einreihen können - zu diesem nüchternen Schluss kommt Gardner, ohne dies klipp und klar so auszudrücken.

Alle guten Taten finden ihr Ende …

So lange Gardner der „Letzten Zuflucht“ vorstand, investierte er viel Zeit und eigenes Geld in deren Arbeit. Um die Trommel für das Projekt zu rühren, fungierte er u. a. als Co-Produzent der TV-Serie „The Court of Last Resort“, die 1957/58 in 26 halbstündigen  Episoden vom Sender NBC ausgestrahlt wurde. Die Fälle wurden dramaturgisch aufbereitet und von Schauspielern dargestellt, aber immer wieder traten auch reale Mitglieder der „Letzten Zuflucht“ vor die Kamera, um über den Stand der jeweiligen Dinge zu berichten.

1960 verließ Gardner die „Letzte Zuflucht“. Das Fernsehen hatte seine Perry-Mason-Romane entdeckt, in die der Autor ebenfalls involviert war. Raymond Burr spielte die Rolle seines Lebens, in die er in den folgenden Jahrzehnten immer wieder schlüpfen konnte. Ohne den charismatischen und einsatzfreudigen Gardner kümmerte die „Letzte Zuflucht“ vor sich hin. Schon 1961 wurde sie aufgelöst.

Ein Zeichen war jedoch gesetzt. Zwar erstand die „Letzte Zuflucht“ selbst nicht wieder, doch andere Gruppen folgten ihrem Vorbild. Vieles von dem, was Gardner 1952 niederschrieb, klingt weit mehr als ein halbes Jahrhundert später schrecklich vertraut. Das US-Strafsystem ist nach wie vor eine Produktionsstätte schrecklicher Irrtümer. Am grundsätzlichen Problem konnten die „Letzte Zuflucht“ nichts ändern, sondern nur in Einzelfällen helfen. Die Erkenntnis, dass diejenigen, die es angehen müsste, offensichtlich gar nichts gelernt haben, ist deshalb doppelt bitter.

Fazit:

Zwar bleibt Autor Gardner zurückhaltend im Ton, doch seine offensichtlich zutreffende Kritik am US-Rechtssystem wird dennoch deutlich. Mit dem schriftstellerischen Geschick des Schriftstellers, der er auch war, dokumentiert Gardner anhand ausgewählter Einzelschicksale die Arbeit der „Letzten Zuflucht“, die tatsächlich offensichtliches, aber ‚legales‘ Unrecht belegen und für Abhilfe sorgen konnte.

Die letzte Zuflucht

Erle Stanley Gardner, Ullstein

Die letzte Zuflucht

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