Joe Country
- John Murray
- Erschienen: Juni 2019
- 2
Intrige in Westminster, Menschenjagd in Wales
Der „Old Bastard“ ist tot. River Cartwright´s Großvater, der River aufzog, während er zugleich zwar nicht als nomineller, aber doch als heimlicher Chef des britischen Inlandsgeheimdienstes MI 5 fungierte, war in seinen letzten Jahren vor allem in der undurchdringlichen Welt der Demenz zuhause. Nun ist er schließlich seiner Krankheit erlegen. Zur Beerdigung erscheinen neben einer Reihe illustrer Geheimdienstgestalten auch River´s Mutter, Tochter des „OB“ mit einer gehörigen Portion Abneigung gegen ihren alten Herrn und – Überraschung! – auch River´s Vater Frank Harkness, Ex-CIA Agent, heute auf kriminellen Abwegen und den Lesern der Reihe bereits aus zwei vorherigen Bänden bekannt. River erkennt ihn, während er aus seinem Leihwagen die Beisetzung beobachtet, und hechtet ihm hinterher, natürlich ohne Erfolg.
Während nun River und das Team der „Slow Horses“, namentlich Louisa Guy, Shirley Dander, Roddie Ho, J.K. Coe, Catherine Standish und Chef Jackson Lamb auf Ihre unnachahmliche Art gemeinsam (oder treffender: jeder gegen jeden) versuchen herauszufinden, was Frank Harkness – immerhin steckbrieflich gesucht - im Vereinigten Königreich zu suchen hat, hat das Slough House einen Neuzugang zu verzeichnen. Lech Wicinski, einst Analyst im „Park“, dem Hauptsitz des MI 5, wurde in das Domizil der lahmen Enten des Geheimdienstes versetzt, weil man auf seinem Dienst-Laptop Kinderpornographie gefunden hat. Während er sich das nicht erklären kann, behaupten die Experten, eine Einflussnahme von außen sei praktisch ausgeschlossen. Klar, das Lech jetzt überall und auch im Slough House in etwa so beliebt ist wie Hodenhochstand oder Fußpilz.
Derweil hat „Lady Di“ Taverner endlich ihr Ziel erreicht und ist nun auch nominell Chefin des MI 5. Als erste Amtshandlung feuert Sie Emma Flyte, „Head Dog“, also bisher Chefin des internen MI 5 Sicherheitsdienstes. Anlass sind vordergründig die Ereignisse im letzten Band, vor allem aber wohl die Tatsache, dass Emma jünger, hübscher und mindestens genauso schlau, allerdings weniger hinterlistig ist als Lady Di. Eine „ Beförderung“ in´s Slough House hatte Emma dankend abgelehnt.
Kurz nach der Beisetzung des alten Cartwright erhält Louisa Guy einen Anruf von Min Harpers Ehefrau. Min, bereits vor zwei Bänden im Dienst umgekommen und somit in jeder Hinsicht Ex-Lover von Louisa, hat einen jugendlichen Sohn, und der ist verschwunden. Mit einer Mischung aus Loyalität zu Min und schlechtem Gewissen gegenüber dessen Gattin macht sich Louisa auf die Suche nach dem Jungen, und die führt nicht nur sie, sondern alsbald auch den Rest der „Slough House“ Gurkentruppe sowie Emma Flyte in das tief verschneite, ländliche Wales auf eine ebenso abenteuerliche wie wilde Menschenjagd, die sie über Stock und Stein nicht nur auf die Spur des Jungen, sondern auch auf die von Frank Harkness führt und die für einige der Protagonisten tödlich enden wird.
Zugleich düster und urkomisch
Auch im sechsten Band der Jackson-Lamb-Reihe finden wir die gleiche Kernmannschaft der Slow Horses, und diejenigen Charaktere, die im letzten Band das Zeitliche segneten, werden durch ein paar Neuzugänge ersetzt. Die Hauptrollen sind allerdings diesmal etwas anders verteilt, im Vordergrund stehen vor allem Emma und Louisa und Ihre Suche nach dem verschwundenen Jungen, sowohl River als auch Lamb spielen hingegen diesmal eher Nebenrollen. Natürlich gibt es auch in diesem Band urkomische Szenen und wunderbare Reminiszenzen an die gegenwärtige britische Politik, aber dennoch wirkt diese Geschichte düsterer und zugleich realistischer als ihre Vorgänger. Oder liegt das vielleicht daran, dass die Wirklichkeit selbst immer absurder wird? Wie dem auch immer sei: Die Hetzjagd durch das winterliche Wales ist solide Krimikost, spannend durch jede Menge Cliffhanger, die einen ungeduldig der Frage entgegenfiebern lassen, wie die Protagonisten mit der ungewohnt feindlichen Natur und mit ihren nicht minder gefährlichen Gegenspielern fertig werden, und auch der Herron-typische Sarkasmus kommt dabei nicht zu kurz. Allerdings flicht der Autor hier gleich drei verschiedene Handlungsstränge ineinander, und das ist nicht nur manchmal verwirrend, sondern auch nicht immer ganz logisch. Aber um Logik geht es hier ja auch allenfalls am Rande. Natürlich stehen das Verschwinden des Jungen mit den Intrigen, die zugleich im MI 5 wuchern und die Kinderpornovorwürfe miteinander in einem schlussendlich nicht vollständig nachvollziehbaren Zusammenhang, aber viel wichtiger sind die teils absurden und zugleich urkomischen Kapriolen, welche die Protagonisten vollführen, um ihre unterschiedlichen Ziele zu erreichen.
Fazit:
Mag sich das sehr spezifische „Setting“ der Reihe bei den Underdogs des Spionagebetriebes auch hier und da schon etwas abgenutzt haben, so liefert Herron doch sowohl sprachlich als auch inhaltlich spannende und zugleich überaus amüsante Lektüre weit oberhalb des durchschnittlichen Krimi-Einerleis ab. Mehr noch: Herron führt uns mit beißendem Spott vor Augen, wie lächerlich und von Egozentrik und Psychopathie getrieben die Welt der Spionage, und ebenso die Welt der Politik, der sie zu dienen bestimmt ist, sich ausnimmt. Und wer wollte das wohl leugnen in Zeiten, in denen ein Boris Johnson (der hier ganz am Rande auch sein Fett abbekommt) im gar nicht mehr so Vereinigten Königreich Premierminister werden kann? Im ganzen also entwickelt sich die Reihe und auch die Charaktere darin diesmal deutlich weiter, und das Ende sorgt mit einem geradezu gigantischen Fragezeichen dafür, das sicher nicht nur der Autor dieser Zeilen auch den nächsten Band ganz sicher kaufen wird, sobald er erscheint. Und das ist doch der Sinn der Sache, oder etwa nicht?
Mick Herron, John Murray
Deine Meinung zu »Joe Country«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!