Der Schatten des Bösen
- Goldmann
- Erschienen: April 2019
- 3
Marie-Luise Bezzenberger (Übersetzung)
Ein Hauch von Zauberei
Im Jahr 1999 kehrt Assistant Commissioner Florence Lovelady aus London mit ihrem 15-jährigen Sohn Ben in die Kleinstadt Sabden am Fuße des Pendle Hill in der nordenglischen Grafschaft Lancashire zurück, um an der Beerdigung des Sargtischlers und Serienmörders Larry Glassbrook teilzunehmen.
Vor 30 Jahren waren in Sabden drei Teenager grausam zu Tode gekommen. Der Täter hatte sie lebendig eingesargt. Florence, damals noch Constable und am Beginn ihrer Karriere, hatte Larry Glassbrook als Mörder überführt.
Florence hat über die Jahre Kontakt zu Larry gehalten. Bei ihrem letzten Besuch hat er, bereits vom Tod gezeichnet, seltsame Bemerkungen gemacht. Daraufhin macht sie eine Entdeckung, die sie an Larrys Schuld zweifeln lässt.
Im Bienenstock des nunmehr seit 30 Jahren leerstehenden Hauses der Glassbrooks findet sie eine Tonplastik, ein so genanntes Lehmbildnis, das sie selbst darstellt und erst kürzlich getöpfert wurde. Solche Lehmbildnisse fand man auch bei den toten Kindern. Sie gehen zurück auf den im 17. Jahrhundert in der Region aufgeflammten Hexenglauben, der zu den berüchtigten Pendle-Hexenprozessen führte. Die Hexen hatten solche Figuren für einen Bindezauber verwendet. Florence hat den Verdacht, dass Larry die Taten aus Liebe auf sich genommen hat, um seine Frau Sally oder eine seiner Töchter Luna und Cassie zu schützen.
Sie beginnt Fragen zu stellen. Als Ben verschwindet, ist sie sicher, dass der Mörder von damals immer noch frei herumläuft und ihr Sohn sein nächstes Opfer sein soll.
Im finsteren Norden
Die Protagonistin Florence Lovelady, 22 Jahre alt, ist der erste WPC in Sabden. Als einzige Polizistin hat sie einen schweren Stand in der von Männern dominierten Polizeiwelt. Nicht nur ihr Geschlecht, auch ihre Herkunft aus dem Süden des Landes und ihr Studium machen sie zu einer Außenseiterin. Kollegen nennen sie ein wichtigtuerisches Schulmädchen, das sich für etwas Besseres hält.
Sie akzeptiert ihr Außenseitertum. Statt sich anzupassen, schwimmt sie gegen den Strom und düpiert damit zusätzlich Vorgesetzte und Kollegen. Sharon Boltons Protagonistin eckt bei ihren Mitmenschen an.
Die Kollegen behandeln sie wie eine Sekretärin oder Putzfrau, nennen sie penetrant Schätzchen oder Flossie, vergessen ihren Namen, ignorieren ihre guten Ideen, um sie dann selbst zu übernehmen und als eigene auszugeben, verdonnern sie zum Teekochen. Das weibliche Personal auf dem Revier solidarisiert sich mit den Männern.
Boltons Schilderungen der Zustände liefern ein realistisches Bild dieser Zeit, erinnern an die englische TV-Krimiserie „Life on Mars“.
Der Leser erfährt die Geschichte aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Florence, folgt ihr auf der Suche nach dem Täter zu den verschiedensten Orten und Personen und durchmisst dabei Topographie und soziales Gefüge sowie die Machtverhältnisse in der Stadt.
Die Autorin setzt das Setting geschickt für ihre Geschichte ein. Die einsame Moorgegend, der Aberglaube, das Gerede von Hexen und Magiern erinnern an Emily Brontës „Sturmhöhe“. Auch werden im Roman die berüchtigten Moormörder Ian Brady und Myra Hindley angesprochen, die kurz vorher in Manchester mehrere Kinder ermordeten. Ihre Morde sind bei der Bevölkerung von Sabden noch sehr präsent, und als die drei Teenager verschwinden, will der Mob einen bekannten Sittenstrolch lynchen.
Die Identität des Täters bleibt lange ungeklärt. Es gibt eine Reihe von Verdächtigen, doch entweder haben sie ein Alibi oder ihnen fehlen die Möglichkeiten. Denn die Art und Weise, wie die Kinder getötet wurden, bedarf einiger spezieller Kenntnisse und Fähigkeiten, vor allem was Särge und Begräbnisse angeht.
Die Verhaftung von Larry Glassbrook ist folgerichtig, alles weist auf ihn als Täter hin. Es kommen keine Zweifel auf, auch nicht beim Leser. Erst nach seinem Tod und mit weiteren Informationen wird klar, dass Florence sich geirrt hat. Es ist nicht ihr einziger Irrtum in Sabden.
Die Geschichte um den Mörder Larry Glassbrook ist nachvollziehbar, wirkt plausibel und glaubwürdig. Dennoch ist sie eine Lüge, eine geschickte Konstruktion, ein Narrativ des wahren Mörders.
Sharon Bolton erzählt eine überaus doppelbödige Geschichte
Bolton konstruiert, dekonstruiert die Konstruktion und dekonstruiert die Dekonstruktion. Sie erzählt eine doppelbödige Geschichte mit einer Scheinentführung und einem Scheinbegräbnis, um vom möglichen Täter abzulenken, einer Scheinentführung, um den Verdacht auf eine bestimmte Person zu lenken. Das klingt nach einer komplizierten Konstruktion und ist es auch: raffiniert, logisch nachvollziehbar und stimmig.
Das Buch schließt mit einem Begleitwort der Autorin, in dem sie über Außenseiter wie ihre Protagonistin schreibt, über die mittelalterlichen Hexenprozesse ihrer Heimatstadt Pendle und die Region Nordenglands im allgemeinen, die sie als finster beschreibt, nicht nur Serienmörder wie Bradley und Hindley, den Yorkshire Ripper, Harold Shipman oder Peter Dinsdale hervorbrachte, sondern auch mögliche Inspirationsquelle für ihre düsteren Thriller ist.
Sharon Bolton hat mit ihrem neuen Verlag Trapeze einen Vertrag über eine Trilogie geschlossen. Der erste Band, „Der Schatten des Bösen“, erschien 2018 unter dem englischen Titel „The Craftsman“, der zweite Band mit dem Titel „The Poisoner“ ist für 2019 angekündigt.
Fazit:
Düsterer Thriller mit mystischem Einschlag über die Jagd einer Polizistin auf einen Serienmörder. Spannend, intensiv und mysteriös, mit komplexer Handlung, ambivalenten Figuren, überraschenden Wendungen.
Sharon Bolton, Goldmann
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